: Sayragul Sauytbay, Alexandra Cavelius
: Die Kronzeugin Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager und Chinas Griff nach der Weltherrschaft
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958903319
: 1
: CHF 10.60
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: Politik
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Infolge einer Reihe von Anschlägen in Xinjiang 2014 errichtete die chinesische Regierung in den letzten Jahren dort ein riesiges Netz von Straflagern für ethnische Minderheiten, vorwiegend muslimische Uiguren und Kasachen. 2017 gerät die Staatsbeamtin und Direktorin mehrerer Vorschulen Sayragul Sauytbay selbst in die Mühlen des chinesischen Unterdrückungsapparates, wird mehrmals verhört und schließlich in ein Umerziehungslager gesteckt, wo sie ihren Mitgefangenen von morgens bis abends die chinesische Sprache, Kultur und Politik beibringen muss. Die Bedingungen sind unmenschlich: Gehirnwäsche, Folter und Vergewaltigung, dazu erzwungene Einnahme von Medikamenten, die die Inhaftierten apathisch macht oder vergiftet. 2018 kommt Sayragul Sauytbay 2018 wieder frei und flieht nach Kasachstan. Seitdem sieht sie es als ihre Aufgabe an, der Welt Zeugnis abzulegen von den chinesischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und sie will die Welt warnen vor der Politik Pekings, das mit 'Softpower' wie beim 'Seidenstraßenprojekt' großzügige Kredite vergibt, andere Länder in Abhängigkeit bringt und langfristig die Unterwerfung der freien Welt anstrebt. Modell steht dabei Xinjiang - der größte Überwachungsstaat, den die Welt je gesehen hat, in dem Faschismus und Tyrannei regieren.

Sayragul Sauytbay, geboren 1976 in dem autonomen kasachischen Bezirk Ili in der chinesischen Provinz Xinjiang, studierte Medizin, arbeitete zunächst als Ärztin in einem Krankenhaus und wurde später vom chinesischen Staat als Direktorin für mehrere Vorschulen eingestellt. Als die chinesische Regierung massiv gegen uigurische und kasachische Minderheiten vorgeht, reisen ihr Mann und ihre Kinder 2016 nach Kasachstan aus. Sie selbst erhält kein Ausreisevisum, wird mehrmals verhört, schließlich verhaftet und in einem Umerziehungslager gezwungen, als Ausbildern zu arbeiten. Dadurch erhält sie Einblick in das Innerste dieses Systems. Als man ihr nach drei Tagen in Freiheit erneut das Straflager androht, flieht sie nach Kasachstan, wo ihr Prozess zu den größten Protesten in der Geschichte des Landes führt, denn auch in Kasachstan vermissen Tausende Menschen ihre Verwandten in den Straflagern Xinjiangs. Trotzdem wird sie monatelang inhaftiert, ehe Schweden ihr und ihrer Familie Asyl gewährt. 2020 wird sie vom Außenministerium der USA mit dem International Women of Courage Award ausgezeichnet, 2021 erhielt sie den Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis, der 2022 - aufgrund der Corona-Pandemie mit leichter Verspätung - an sie vergeben wird. Alexandra Cavelius ist freie Autorin und Journalistin. Sie publizierte in renommierten Magazinen und schrieb politische Sachbücher wie 'Die Zeit der Wölfe' sowie in mehrere Sprachen übersetzte Bestseller wie 'Die Himmelsstürmerin' und 'Leila - ein bosnisches Mädchen'. Zu ihren jüngsten erfolgreichen Werken zählen die Geschichte der Jesidin Shirin 'Ich bleibe eine Tochter des Lichts' und 'Die Psychologie des IS', die sie in Zusammenarbeit mit dem international anerkannten Traumatologen Jan Ilhan Kizilhan verfasst hat. In verschiedenen Werken hat sie sich intensiv mit schwertraumatisierten Überlebenden und radikalisierten Tätern auseinandergesetzt. Zuletzt schrieb sie auf der Basis ihrer vielfachen Recherchen über Krieg, Glauben und Ideologien den Historienroman 'Die Assassinin'.

Flehende Frauen in der Nacht


Jede Nacht versammeln sich die weinenden Mädchen um mein Bett herum. Ihre dunklen Augen aufgerissen, ihre Köpfe kahlgeschoren. »Rette uns!«, flehen sie mich an, »bitte rette uns!« Uns Frauen trifft es an den Orten der Welt, wo die Willkür regiert, immer am härtesten. Es ist so leicht, uns mit den Dämonen der Ohnmacht, Scham und Schuldgefühlen zu ersticken. Doch es sind nicht wir Frauen, die sich für die Wunden schämen müssen, die uns die Männer gerissen haben. Nur muss ich mir das selbst erst noch verinnerlichen, Ich versuche, mich hochzurappeln, aber ich bleibe wie eine Tote liegen.

Seitdem ich im Straflager war, komme ich manchmal nicht vom Bett hoch. Das liegt daran, dass ich dort so lange auf kaltem Betonboden schlafen musste. Meine Glieder und Gelenke schmerzen vom Rheuma. Vorher war ich vollkommen gesund, heute bin ich mit 43 Jahren eine kranke Frau. Sobald ich voller Unruhe für wenige Sekunden einnicke, wecken mich meine Albträume wieder auf.

All diese Frauen, Kinder, Männer und Alte hinter den hohen Mauern aus Stacheldraht haben kein Verbrechen begangen, außer dass sie wie ich als Kasachen, Uiguren oder andere muslimische Nationalitäten in der Nordwestprovinz Chinas geboren worden sind. Dass sie muslimische Namen wie Fatima oder Hussein tragen.

Mein Name ist Sayragul Sauytbay. Ich bin verheiratet, habe vor meiner Inhaftierung als Direktorin fünf Kindergärten geleitet und liebe meine Familie über alles. Wir stammen aus der Nordwestprovinz Chinas, die flächenmäßig größer als Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen ist und knapp 3000 Kilometer Luftlinie entfernt von Peking liegt. Umschlossen von bis zu 7000 Meter hohen Gebirgsketten, hat unser Land die meisten gemeinsamen Grenzen mit ausländischen Staaten wie der Mongolei, Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan sowie Afghanistan, Indien oder Pakistan. Von hier aus ist China dem fernen Europa am nächsten.

Seit dem Altertum befindet sich dort das Gebiet der mehrheitlich vertretenen Uiguren, aber auch zahlreicher anderer Ethnien wie der Mongolen, Kirgisen, Tartaren oder der zweitgrößten Gruppe, der Kasachen, zu denen ich gehöre. Unser Land hieß Ostturkestan, bis sich das benachbarte Riesenreich China dieses strategisch günstig liegende »Tor zum Westen« unter Mao Zedong 1949 mit Gewalt einverleibt und in die Autonome Region Xinjiang (»Neue Grenzen«) umbenannt hat. Für uns aber bleibt es Ostturkestan, die angestammte Heimat unserer Vorfahren. Offiziell garantiert Peking uns Einheimischen Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Willensfreiheit. Inoffiziell aber behandelt uns die Regierung wie eine Kolonie Sklaven.

Ab 2016 hat sich unsere Provinz in den größten Überwachungsstaat der Welt verwandelt. Ein Netz von mehr als 1200 oberirdischen Straflagern überzieht nach Schätzungen internationaler Experten mittlerweile unser Land, doch immer öfter dringen auch Nachrichten über unterirdische Lager ans Licht. Etwa drei Millionen Menschen sind nach unseren eigenen Schätzungen inhaftiert. Ohne Prozess. Ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Es handelt sich um die größte systematische Internierung eines ganzen Volkes seit Ende des Nationalsozialismus.

Die Parteikader haben mich gezwungen, über all das zu schweigen, was ich als leitende Staatsbeamtin in dieser Hölle von Ostturkestan erlebt habe, »sonst bist du tot«. Ich selbst musste meine Unterschrift unter mein eigenes Todesurteil setzen. Gegen alle Widerstände ist mir jedoch am Ende die Flucht aus dem größten Freiluftgefängnis der Welt bis nach Schweden gelungen.

Mein Fall ist außergewöhnlich, da ich als Ausbilderin in einem dieser Straflager arbeiten musste. Dadurch habe ich den innersten Kern dieses Systems kennengelernt, die bis ins Detail geplante und bürokratisch gelenkte Maschinerie, deren Anweisungen direkt aus Peking kommen. Es geht dabei nicht nur um systematische Folter, Demütigung und Gehirnwäsche. Es geht um das gezielte Auslöschen eines ganzen Volkes.

Während wir hier sitzen, betreiben auch große Firmen aus dem Westen lukrative Geschäfte im Nordwesten Chinas. Gleichzeitig werden nicht weit weg von ihren Firmengebäuden Kinder, Frauen, Männer, J