Flehende Frauen in der Nacht
Jede Nacht versammeln sich die weinenden Mädchen um mein Bett herum. Ihre dunklen Augen aufgerissen, ihre Köpfe kahlgeschoren. »Rette uns!«, flehen sie mich an, »bitte rette uns!« Uns Frauen trifft es an den Orten der Welt, wo die Willkür regiert, immer am härtesten. Es ist so leicht, uns mit den Dämonen der Ohnmacht, Scham und Schuldgefühlen zu ersticken. Doch es sind nicht wir Frauen, die sich für die Wunden schämen müssen, die uns die Männer gerissen haben. Nur muss ich mir das selbst erst noch verinnerlichen, Ich versuche, mich hochzurappeln, aber ich bleibe wie eine Tote liegen.
Seitdem ich im Straflager war, komme ich manchmal nicht vom Bett hoch. Das liegt daran, dass ich dort so lange auf kaltem Betonboden schlafen musste. Meine Glieder und Gelenke schmerzen vom Rheuma. Vorher war ich vollkommen gesund, heute bin ich mit 43 Jahren eine kranke Frau. Sobald ich voller Unruhe für wenige Sekunden einnicke, wecken mich meine Albträume wieder auf.
All diese Frauen, Kinder, Männer und Alte hinter den hohen Mauern aus Stacheldraht haben kein Verbrechen begangen, außer dass sie wie ich als Kasachen, Uiguren oder andere muslimische Nationalitäten in der Nordwestprovinz Chinas geboren worden sind. Dass sie muslimische Namen wie Fatima oder Hussein tragen.
Mein Name ist Sayragul Sauytbay. Ich bin verheiratet, habe vor meiner Inhaftierung als Direktorin fünf Kindergärten geleitet und liebe meine Familie über alles. Wir stammen aus der Nordwestprovinz Chinas, die flächenmäßig größer als Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen ist und knapp 3000 Kilometer Luftlinie entfernt von Peking liegt. Umschlossen von bis zu 7000 Meter hohen Gebirgsketten, hat unser Land die meisten gemeinsamen Grenzen mit ausländischen Staaten wie der Mongolei, Russland, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan sowie Afghanistan, Indien oder Pakistan. Von hier aus ist China dem fernen Europa am nächsten.
Seit dem Altertum befindet sich dort das Gebiet der mehrheitlich vertretenen Uiguren, aber auch zahlreicher anderer Ethnien wie der Mongolen, Kirgisen, Tartaren oder der zweitgrößten Gruppe, der Kasachen, zu denen ich gehöre. Unser Land hieß Ostturkestan, bis sich das benachbarte Riesenreich China dieses strategisch günstig liegende »Tor zum Westen« unter Mao Zedong 1949 mit Gewalt einverleibt und in die Autonome Region Xinjiang (»Neue Grenzen«) umbenannt hat. Für uns aber bleibt es Ostturkestan, die angestammte Heimat unserer Vorfahren. Offiziell garantiert Peking uns Einheimischen Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Willensfreiheit. Inoffiziell aber behandelt uns die Regierung wie eine Kolonie Sklaven.
Ab 2016 hat sich unsere Provinz in den größten Überwachungsstaat der Welt verwandelt. Ein Netz von mehr als 1200 oberirdischen Straflagern überzieht nach Schätzungen internationaler Experten mittlerweile unser Land, doch immer öfter dringen auch Nachrichten über unterirdische Lager ans Licht. Etwa drei Millionen Menschen sind nach unseren eigenen Schätzungen inhaftiert. Ohne Prozess. Ohne ein Verbrechen begangen zu haben. Es handelt sich um die größte systematische Internierung eines ganzen Volkes seit Ende des Nationalsozialismus.
Die Parteikader haben mich gezwungen, über all das zu schweigen, was ich als leitende Staatsbeamtin in dieser Hölle von Ostturkestan erlebt habe, »sonst bist du tot«. Ich selbst musste meine Unterschrift unter mein eigenes Todesurteil setzen. Gegen alle Widerstände ist mir jedoch am Ende die Flucht aus dem größten Freiluftgefängnis der Welt bis nach Schweden gelungen.
Mein Fall ist außergewöhnlich, da ich als Ausbilderin in einem dieser Straflager arbeiten musste. Dadurch habe ich den innersten Kern dieses Systems kennengelernt, die bis ins Detail geplante und bürokratisch gelenkte Maschinerie, deren Anweisungen direkt aus Peking kommen. Es geht dabei nicht nur um systematische Folter, Demütigung und Gehirnwäsche. Es geht um das gezielte Auslöschen eines ganzen Volkes.
Während wir hier sitzen, betreiben auch große Firmen aus dem Westen lukrative Geschäfte im Nordwesten Chinas. Gleichzeitig werden nicht weit weg von ihren Firmengebäuden Kinder, Frauen, Männer, J