Kapitel 1
Die Rechtsanwältin und Wirtschaftswissenschaftlerin Christine Winters ist das jüngste Wunderkind in ihrer Kanzlei; gierig macht sie sich über einen Fall nach dem anderen her und berechnet einen Stundenlohn von zweihundertfünfzig Pfund. An der Ampel kurz vor dem Dorchester Hotel bleibt sie stehen, schaut ungeduldig auf die Uhr und fragt sich, welche Folgen es haben wird, dass sie heute viel zu spät zur Arbeit kommen wird. Der Hochzeitszug hat Verspätung, aber sie möchte unbedingt einen Blick auf Sienna Sheik erhaschen ‒ ihre Freundin aus Schultagen heiratet heute. Seit Tagen wimmelt es in den Medien von Bildern der schönen jungen Frau der Londoner High Society, die in einer privaten Zeremonie im Dorchester einen wohlhabenden, mit ihr nur entfernt verwandten Cousin heiraten und zur Feier des Tages anschließend eine opulente Party geben wird. Es ist eine arrangierte Ehe, und dahinter steckt Mohsen Sheik, der Vater der Braut und Indiens millionenschwerer »Diamantenkönig«.
Chris wischt sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Ist es wirklich so heiß und feucht, oder sind das die Nachwirkungen des Weins, den sie während eines langweiligen, aber notwendigen Geschäftsessens getrunken hat? Sie blinzelt gegen die untergehende Sonne und sieht, wie eine lange Schlange von mit Blumenarrangements geschmückten, überlangen Limousinen langsam heranrollt. Als sie Einzelheiten erkennen kann, bestaunt sie mit offenem Mund die edlen, bunten Seiden- und Satingewänder, die blitzenden Augen der attraktiven Männer, ihre prächtigen Turbane, Juwelen und leuchtenden Anzüge. Auch die Frauen sind atemberaubend gekleidet; jede von ihnen ein Paradiesvogel! Jetzt ist sie froh, dass sie die Einladung zum Hochzeitsempfang ausgeschlagen hat. Früher einmal waren sie füreinander wie Schwestern, doch heute leben sie in verschiedenen Welten.
Mit wild klopfendem Herzen beobachtet Chris, wie Sienna im Fond eines grauen Daimlers vorbeifährt. Das schimmernde, juwelenbesetzte, blaugoldene Gewand der Braut verschlägt ihr beinahe den Atem. Wie schön Sienna ist! Das glänzende, schwarze Haar fällt ihr lose über die Schultern, halb verborgen von einem glitzernden, blauen Schleier. Chris gelingt es, einen Blick auf die vertrauten, klaren, braunen Augen zu werfen. Sie wirken ungewöhnlich traurig, und das rührt sie. Plötzlich bemerkt Sienna Chris und beugt sich vor, um ihr zuzuwinken, aber der Wagen fährt weiter. Mit wilden Gesten zeigt sie auf das Rückfenster hinaus, um Chris zu bedeuten, ins Dorchester nachzukommen.
Die Ampel springt auf Rot, und die Hälfte des Konvois bleibt stehen. Der Brautwagen verlangsamt das Tempo, als zwei Autos in die falsche Fahrtrichtung herangeprescht kommen und dann so scharf bremsen, dass es nach verbranntem Gummi stinkt. Chris prallt erschrocken zurück und kommt an der Ampel zum Stehen. Um sie herum erklingt hysterisches Geschrei, Waffen blitzen auf, und bewaffnete Männer mit Masken rennen brüllend über die Straße zum Brautwagen. Auf der anderen Straßenseite laufen acht weitere maskierte Männer auf Siennas Wagen zu, Schüsse fallen. Chris hat das Gefühl, sie sei mitten in einen Matrix-Film hineingeraten. Das alles kann unmöglich real sein, denkt sie.
Einige Gäste lassen ihre Autos stehen und flüchten in die umliegenden Läden, aber die meisten von ihnen bleiben stocksteif und aufrecht sitzen, als warteten sie darauf, dass sich die Normalität wieder einstellt. Eine Trillerpfeife ertönt, ein nicht enden wollendes schrilles Pfeifen. Vor Chris spritzt Blut auf die Straße, ein bewaffneter Mann ist aus einem Wagen gefallen und bleibt mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Asphalt liegen. Der Anblick seines Körpers ist für Chris wie ein Startschuss, und sie rennt mit trainierten Bewegungen los.
Zwei bewaffnete Männer haben währenddessen den Wagenschlag der Brautlimousine aufgerissen. Sie versuchen, Sienna herauszuzerren, aber sie klammert sich fest, ihr Kleid zerreißt, und sie verliert ihren Schleier. Die Zeit scheint stillzustehen.
»Hilfe! Helft mir doch!«
Jetzt haben sie Sienna aus dem Wagen gezogen, niemand hilft ihr. Ihre Leibwächter sind auf der Rückbank zusammengebrochen. Die Türen eines grünen Möbelwagens, unauffällig am Straßenrand geparkt, öffnen sich. Die Männer versuchen, sie zu dem Möbelwagen hinüberzustoßen, und Sienna schreit und wehrt sich mit Händen und Füßen.
Eine Stimme aus dem dunklen Inneren bellt: »Schneller! Schneller! Schneller!« Ein Rap-Albtraum mit Gewehrschüssen als Percussion.
Als Chris lossprintet, bedauert sie erneut, den Wein getrunken zu haben. Zu langsam! Warum bin ich so langsam? Siennas seidener Ärmel ist zerrissen, und man kann ihre nackte Schulter sehen.
»Zurück … zurück!«, brüllt einer der Bewaffneten.
Keuchend nimmt Chris die letzten Meter im Sprung, die Hände ausgestreckt, um nach Sienna zu greifen.
Mit letzter Kra