Kapitel 1
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sie wirbelte herum,konnte dem Schlag aber nicht mehr ausweichen. Ein heftiger Schmerz explodierte in ihrem Schädel und raste von dort ins Genick,während sie mit dem Gesicht voraus zu Boden fiel. Ein grelles Flimmern vor den Augen blendete sie. Sekundenlang war sie wie gelähmt. Die Zeit verrann unendlich langsam,während der Schmerz über sie hinwegspülte. Blut lief ihr die Wange hinunter. Eine schwarze Gestalt vor schwarzem Hintergrund: Drohend stand sie über ihr, die funkelnde Axt zum Schlag erhoben. Dahinter die finstere See, vom Wind und den Gezeiten zu einer absurden Woge aufgetürmt,die sich kräuselte,erbebte,nie der stürzte. Endlich fand sie die Stimme wieder,doch ihr Schrei ging unter im Donnern des Wassers.
Schluchzend wachte sie auf. Im ersten Augenblick war sie ganz durcheinander und wusste nicht, wo sie war. Sie konnte die eisige Kälte und das Salzwasser fühlen, das ihr in Hals und Nase brannte. Ängstlich befühlte sie die Kopfwunde und rieb über die ungewohnten Nähte.
Sie hörte Schritte und zuckte zusammen. Im Licht, das ins Zimmer fiel, zeichnete sich die Silhouette ihres Sohnes in der Tür ab. Eine Sekunde lang starrte sie ihn verwirrt an. Dann wurde sie von Liebe zu ihm regelrecht überwältigt. Der Gedanke an ihn hatte ihr die Kraft zum Durchhalten gegeben.
Die Anspannung fiel von ihr ab, als die Erinnerung an den fünftägigen Krankenhausaufenthalt und an ihre Heimkehr zurückkehrte. Wie hatte sie so dumm sein und das vergessen können? Sie beruhigte sich beim Anblick des vertrauten Schlafzimmers mit den gebrochen weißen Seidenvorhängen, dem weichen grauen Teppich und den weißen Brücken darauf, dem einzigartigen Gemälde Sibyl Ferrettis, ihrer besten Freundin, das einen Reiher in den Sümpfen darstellte. Ihr Herzschlag normalisierte sich allmählich wieder, und die Ruhe, die sie auf einmal erfüllte, tat so gut wie ein Regen nach langer Trockenheit.
»O Jason! Ich dachte … Hab ich dich geweckt? Entschuldige, mein Schatz.«
Er wirkte verstört, seine schwarzen Pupillen waren riesig und seine Wangen bleich. Nervös kaute er auf der Unterlippe. Er war erst fünfzehn; das alles war einfach zu viel für ihn. Sie ergriff seine Hand.
»Es ist alles in Ordnung, Mum.« Er war im Stimmbruch und krächzte ein wenig. »Du bist daheim und in Sicherheit. Es ist vorbei.«
Es wird nie vorbei sein. Ich werde mein Leben lang damit leben müssen, dachte sie. Sie hatte den Schock noch immer nicht überwunden, und ihre Angst ließ keinen Raum für andere Gefühle.
Jock kam angeschlichen und setzte sich zitternd neben das Bett. Er war bullig, schwarz und hässlich, ein Muskelpaket mit dem Körper eines Labradors und dem Umfang und Kopf eines Staffordshire-Terriers. Seine gute Erziehung hielt ihn davon ab, aufs Bett zu springen. Stattdessen leckte er ihr die Hände und sah sie mit grenzenloser Liebe an.
»Es ist wunderbar, wieder daheim zu sein«, flüsterte sie und streichelte Jocks Kopf. Dann schaute sie auf, warf einen prüfenden Blick auf ihren Sohn und brachte ein strahlendes Lächeln zu Stande. »Mir geht es gut. Wirklich. Ich hab nur schlecht geträumt.«
Jason, ein linkischer Teenager, der mit seinen langen Beinen und seinem dünnen Hals ein wenig wie eine Gespenstheuschrecke aussah, war ein ganz normaler Junge mit Stupsnase, freundlichem Lächeln, sanften bernsteinfarbenen Augen. Dass er einen ungewöhnlich scharfen Verstand hatte, ließ er sich nie anmerken, weil es ihm schrecklich unangenehm war. Ihr fiel auf, dass er längst aus seinem Pyjama herausgewachsen war und sich ein zarter Flaum auf seinen Wangen zeigte.
»Geh wieder ins Bett. Du musst morgen in die Schule. Wo ist Sib?«
»Zu einer Verabredung. Ich hab gesagt, ich komm schon klar. Das ist doch in Ordnung, oder? Geht es dir auch wirklich gut?« Seine Stimme wechselte von hoch zu tief und wieder zurück – wie stets, wenn er aufgeregt oder wütend war. Er wurde rot und lachte rau.
»Aber ja.« Sie streckte die Arme aus und drückte ihn fest an sich. Sie fühlte seinen muskulösen Rücken, nahm den Geruch von Seife, Zahnpasta und warmer, frischer Wäsche wahr und stellte erstaunt fest, wie breit seine Schultern geworden waren.
»Du hast laut gestöhnt und dich wie wild herumgeworfen. Versuch, nicht mehr dran zu denken, Mum.« In seinen Augen spiegelten sich Kummer und Schmerz.
»Wenn ich mich doch bloß erinnern könnte, was genau passiert ist! Ich sehe immer wieder diese schrecklichen Bilder vor mir und habe das Gefühl, mit etwas Bösem in Berührung gekommen zu sein.« Nachdenklich hielt sie Jasons Hand umklam