1. KAPITEL
Imogen setzte ihre Ohrstöpsel ein und drückte auf Start, um die Playliste abzuspielen, die ihr Vater ihr geschickt hatte. Sie hielt still, bis das erste Lied begann, und grinste, als der Surfsound der Sechzigerjahre erklang.
Perfekt, hier auf dieser Insel vor der Küste Brasiliens! Sie kniff sich in den Arm. Zweimal. Und starrte dann böse den Staubsauger an, der sie daran erinnerte, dass sie nicht nur im Urlaub war. Diese Tatsache entschlüpfte nur allzu leicht ihrem Bewusstsein, bei all dem goldenen Sand, den Palmen, den stillen Lagunen und den verlockenden Wellen auf dem unendlichen Blau des Ozeans.
Aber in ein paar Stunden konnte sie an den Strand gehen. Oder den Regenwald erkunden. Oder …
Oder herausfinden, was mit ihrer Tante los war.
Das Lachen verging ihr, aber sie straffte dennoch entschlossen die Schultern. Imogen war erst seit drei Tagen hier und hatte noch genügend Zeit herauszufinden, was Tante Katherine bedrückte.
Entschlossen stellte sie den Staubsauger an und verwandelte sich augenblicklich in die Göttin von Heim und Herd. Singend und mit kleinen Tanzschritten wirbelte sie durch den Raum. So funktionierte Hausarbeit am besten! Sie musste erledigt werden, aber man konnte dabei wenigstens Spaß haben.
Während der vergangenen Tage war sie so still wie ein Mäuschen gewesen. Sie hatte schnell bemerkt, dass der Herr des Hauses, Jasper Coleman, ziemlich empfindsam gegen Krach war.
Aber pünktlich jeden Vormittag um elf ging er eine Stunde joggen. Das hieß, Imogen blieben noch fünfzig Minuten, in denen sie sich austoben konnte. In dieser Zeit musste sie in seinem Wohnzimmer, dem Speisezimmer, dem Büro und der Eingangshalle staubwischen, staubsaugen und aufräumen.
Sie schaute sich in der Strandvilla um. Die Holzbalken, die sich über die gesamte hohe, unverkleidete Decke zogen, ließen den Raum besonders groß wirken. Bei diesem Anblick fühlte sich Imogen, als wäre sie auf einem uralten Piratenschiff unterwegs. Die mexikanisch inspirierten, honigfarbenen Bodenfliesen wirkten diesem Eindruck allerdings entgegen, ähnlich wie die riesigen Fenster mit ihrem fantastischen Ausblick.
Grübelnd schob Imogen den Staubsauger-Fuß unter den Couchtisch. Eigentlich sollte ihr das Haus gefallen. Die künstlerisch arrangierten Möbel und Designerteppiche sahen aus wie aus einem Lifestyle-Magazin für die Reichen und Schönen. Alles passte zusammen. Sie unterdrückte einen Schauder.
Wenn es ihr Haus wäre …Haha. Als ob.
Aber wenn eben doch, dann sähe es hier ganz anders aus. Ihr Lächeln verblasste. Über dem Haus lag eine Düsternis, die man nicht von den Wänden schrubben oder aus der Tür kehren konnte. Kein Wunder, dass Tante Katherine so miesepetrig war.
Tante Katherine und Miesepetrigkeit – das passte eigentlich nicht zusammen. Imogen musste dem Geheimnis auf den Grund gehen, und nicht nur deshalb, weil sie es ihrer Mutter versprochen hatte. Tante Katherine stand ihr besonders nahe, und es tat weh, sie so unglücklich zu sehen.
Das nächste Lied begann, und Imogen rief sich zur Ordnung. Schließlich hatte sie ein Haus zu putzen und konnte es sich nicht leisten, schwermütig zu werden. Sie drehte die Musik lauter, wackelte im Takt mit dem Hintern und schwang den Staubsauger herum wie einen imaginären Tanzpartner. Die Räume waren zwar sauber, aber sie waren riesig, und sie musste fertig sein, bevor Mr. Coleman zurückkam und sich wieder in seinem Büro verkroch. Was auch immer er dort an seinem Computer tat. In einem Jackett! War das zu glauben? Auf einer Insel, auf der gerade einmal vier Leute wohnten, trug er ein Jackett zur Arbeit.
Das zweite Lied endete. Als Nächstes erklang die Stimme ihres Vaters. Das war das Schöne an seinen Playlisten – die persönlichen Sprachnachrichten zwischen den Liedern.Wir vermissen dich, Immy.
Imogen rollte mit den Augen, aber grinsen musste sie doch. Um seine Anekdote über den Tennisklub besser hören zu können, stellte sie den Staubsauger kurz aus.
Ich hab dich lieb, meine Kleine.<