: Henry Miller
: Nexus
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644006287
: 1
: CHF 7.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit 'Nexus' nimmt Henry Miller die Fäden wieder auf, die er in 'Plexus' angesponnen hat. Unvergessene Gestalten erscheinen wieder, neue treten hinzu. Ausgeprägte Charaktere mit unverkennbarer Physiognomie tauchen auf aus dem unergründlichen New Yorker Menschenmeer. Beschworen von der Gewalt der Erinnerungen und magischer Sprachkraft, gewinnen sie farbiges, inständiges, vitales und geistiges Leben.

Henry Miller, der am 26. Dezember 1891 in New York geborene deutschstämmige Außenseiter der modernen amerikanischen Literatur, wuchs in Brooklyn auf. Die Dreißiger Jahre verbrachte Miller im Kreis der «American Exiles» in Paris. Sein erstes größeres Werk, das vielumstrittene «Wendekreis des Krebses», wurde - dank des Wagemuts eines Pariser Verlegers - erstmals 1934 in englischer Sprache herausgegeben. In den USA zog die Veröffentlichung eine Reihe von Prozessen nach sich; erst viel später wurde das Buch in den literarischen Kanon aufgenommen. Henry Miller starb am 7. Juni 1980 in Pacific Palisades, Kalifornien.

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Wuff! Wuff wuff! Wuff! Wuff! Bellen in der Nacht. Bellen, Bellen. Ich rufe, aber niemand antwortet. Ich schreie, aber nicht einmal ein Echo ist zu hören.

«Was willst du – den Osten des Xerxes oder den Osten Christi?»

Allein – mit Gehirnekzem.

Endlich allein. Wunderbar! Nur ist es nicht ganz das, was ich erwartet hatte. Wenn ich doch nur mit Gott allein wäre!

Wuff! Wuff, wuff!

Mit geschlossenen Augen zaubere ich mir ihr Bild her. Es schwimmt in der Dunkelheit, eine Maske, die aus dem Gischt auftaucht: Der Tilla Durieux-bouche, der sich wie ein Bogen spannt, weiße gleichmäßige Zähne, die Augen dunkel unterlegt, die Lider ein dickflüssiges, glitzerndes Blau. Das Haar fällt wild und dicht, schwarz wie Ebenholz. Die Schauspielerin aus den Karpaten und der Wiener Mansardenwohnung. Wie Venus dem Flachland Brooklyns entstiegen.

Wuff! Wuff wuff! Wuff! Wuff!

Ich schreie, aber für alle Welt klingt es wie ein Geflüster.

Ich heiße Isaac Staub. Ich bin in Dantes fünftem Himmel. Wie Strindberg in seinem Delirium wiederhole ich: «Was macht es, ob man der einzige ist oder noch einen Nebenbuhler hat? Was will das besagen?»

Warum fallen mir plötzlich diese sonderbaren Namen ein? Alles Klassenkameraden von der lieben alten Alma mater: Morton Schnadig, William Marvin, Israel Siegel, Bernard Pistner, Louis Schneider, Clarence Donohue, William Overend, John Kurtz, Pat McCaffrey, William Korb, Arthur Convissar, Sally Liebowitz, Frances Glanty. Keiner von ihnen hat bisher den Kopf gehoben. Aus dem Hauptbuch gestrichen. Unschädlich gemacht wie Schlangengezücht.

«Seid ihr da, Kameraden?»

Keine Antwort.

Bist du's, lieber August, der da im Dunkeln den Kopf hebt? Ja, es ist Strindberg, der Strindberg, dem zwei Hörner auf der Stirn sprossen.Le cocu magnifique.

In glücklicheren Zeiten – wann? Wie lange liegen sie zurück? Auf welchem Planeten war es? – ging ich von Wand zu Wand, um diesen oder jenen zu begrüßen, alles alte Freunde: Leon Bakst, Whistler, Lovis Corinth, Breughel den Älteren, Botticelli, Bosch, Giotto, Cimabue, Piero della Francesca, Grünewald, Holbein, Lucas Cranach, Van Gogh, Utrillo, Gauguin, Piranesi, Utamaro, Hokusai, Hiroshige – und die Klagemauer. Auch Goya und Turner. Jeder hatte etwas Kostbares mitzuteilen. Aber besonders Tilla Durieux, sie mit den beredten, sinnlichen Lippen, dunkel wie Rosenblätter.

Die Wände sind jetzt kahl. Selbst wenn sie mit Meisterwerken behangen wären, würde ich keines erkennen. Es ist alles in Dunkel gehüllt. Wie Balzac lebe ich mit Bildern, die nur in meiner Vorstellung existieren. Selbst die Rahmen sind erdacht.

Isaac Staub – von Staub bist du genommen und sollst wieder zu Staub werden. Füge ein Kodizill hinzu, altem Brauch zuliebe.

Anastasia