EINS
»Äh …?« Ein mulmiges Gefühl beschlich Raphael Freersen, obwohl er die Augen gerade mal drei Sekunden offen hatte. Lag er in einem Sarg? Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen, und der Pelz in seinem Mund schwoll an. Er wandte den Kopf zur Seite, wo Licht ins Dunkel fiel. Gott sei Dank. Der Sarg hatte ein Bullauge. Eine Möwe starrte ihn an, tappte dann weiter durch den Sand.
Raphael war immer noch verwirrt, aber sein Bewusstsein erweiterte sich von Sekunde zu Sekunde. Er hörte das Meer, die Wellen, die in ihrem ewigen monotonen Rhythmus an den Strand plätscherten. Möwen schrien. Schritte knirschten im Sand. Und gerade als die Erinnerung zurückkehrte, endete das Knirschen der Schritte. Raphael wandte den Kopf erneut dem Bullauge zu. Statt der Möwe sah er behaarte Waden und Laufschuhe, dann einen Arm und – Raphael zuckte zusammen – sein Spiegelbild.
Das Gesicht verschwand, und Sekunden später wurde der Sargdeckel, der wohl gar keiner war, hochgezogen. Geblendet schloss Raphael mit einem unwilligen Stöhnen die Augen.
»Ich glaub’s nicht«, erklang eine verärgerte Stimme. »Du bist so ein Sack, Raphael!«
Raphael blinzelte und hob eine Hand vor die Augen. »Moin, Bruder«, krächzte er und räusperte sich. »Ich find’s auch schön, dich zu sehen.« Er rappelte sich hoch, stützte sich auf die Ellenbogen und sah sich um. Vor ihm lag blau und glitzernd die Nordsee im Oktober-Morgenlicht. Eine Fähre der Wyker Dampfschiffs-Reederei nahm gerade Kurs auf den heimischen Hafen. Neben ihm lag ein Schlafsack, unter dem leises Schnarchen hervorklang. Er selbst war nur mit einem Badelaken zugedeckt, was die Gänsehaut erklärte.
»Zwei Tage, Raphael, zwei Tage!« Johannes’ Stimme war Galle pur. »Dann wolltest du aus London zurück sein. Und jetzt, über eine Woche später, in der du nicht auf eine einzige Nachricht reagiert hast, liegst du hier in diesem … diesem Ding und sagst ›Moin, Bruder‹?«
»Jetzt lass mich doch mal wach werden, bevor du mit deiner Predigt anfängst«, beklagte Raphael sich. »Ich muss mich erst sortieren. Ich hatte gestern Abend den einen oder anderen Drink.«
»Mal ganz was Neues«, brummte Johannes.
Im gleichen Moment bewegte sich der Schlafsack neben Raphael, und ein schwarzhaariger Frauenkopf kam zum Vorschein. »Könnt ihr mal bitte leiser sein?«, murmelte sie. »Und macht das Licht aus.« Sie zog den Schlafsack wieder über den Kopf und schnarchte weiter.
»Wer ist das?«, fragte Johannes gereizt.
»Äh, das ist …«, Raphael hob die Hand und sah auf die Innenfläche, »Lillj … Lilli«, verbesserte er sich. »Das ›i‹ ist verschmiert.« Er warf das Badelaken von sich und kletterte splitterfasernackt aus dem Schlafstrandkorb.
»Du hast dir ihren Namen auf die Hand geschrieben?« Johannes starrte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
»Und?« Rap