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Im westfälischen Nirgendwo, das Torfbauern Generationen zuvor einem riesigen Moor abgerungen hatten, bin ich so deutsch aufgewachsen wie jeder andere Dorfbewohner, für den die deutsche Leitkultur die Summe all dessen ist, was sein Leben ausfüllt: nicht hehre Ideale demokratischer Freiheiten, humanistischer Bildung oder Dichter-und-Denker-Hochkultur, sondern das Schimpfen über das viel beschworene schlechte Wetter Westfalens, Plaudereien über die frisch geernteten Bohnen aus dem Gemüsegarten, den Frühschoppen im Gasthof, die alte Kegelbahn, den Jahrmarkt mit Viehverkauf am Samstag, den G’ttesdienst am Sonntag, die totgeglaubte Mundart und das Trinken und Schießen im Schützenverein.
Es mag bitter klingen, doch in meiner Kindheit und Jugend begriff ich die Region, in der ich aufgewachsen bin, als post-jüdisch. In meinem Heimatort gab es – spärlich sichtbar jüdisch – nur mich mit meiner Kippa auf dem Kopf, die meine Großmutter liebevoll »Käppchen« nennt, und den in einem kleinen Waldstück gelegenen jüdischen Friedhof, den bis heute nahezu niemand unter den protestantischen Dorfbewohnern kennt. Die ehemalige Synagoge ist heute ein Wohnhaus ohne Erinnerung an seine sakrale Funktion oder das jüdische Leben, das in ihm weilte. Jeder jüdische Besitz ist einst unter Wert verkauft und geraubt worden. Viele Jüdinnen und Juden, deren Kultur bis zum Nationalsozialismus für fast alle Dorfbewohner Te