Erster Tag
Literaturbeilage Herr Haas, ich habe lange hin und her überlegt, wo ich anfangen soll.
Wolf Haas Ja, ich auch.
Literaturbeilage Im Gegensatz zu Ihnen möchte ich nicht mit dem Ende beginnen, sondern –
Wolf Haas Mit dem Ende beginne ich streng genommen ja auch nicht. Sondern mit dem ersten Kuss.
Literaturbeilage Aber es ist doch ürgendwie das Ergebnis der Geschichte, die Sie erzählen. Oder meinetwegen der Zielpunkt, auf den alles zusteuert. Streng chronologisch gesehen würde das an den Schluss der Geschichte gehören. Ihr Held hat fünfzehn Jahre auf diesen Kuss hingearbeitet. Und am Ende kriegt er ihn endlich. Aber Sie schildern diese Szene nicht am Schluss, sondern ziehen sie an den Anfang vor.
Wolf Haas Ich hätte ein paar Anfänge gehabt, die mir eigentlich besser gefallen haben. Mein Problem war aber weniger der Anfang, also wie fang ich an, sondern wo tu ich den Kuss hin. Man kann ja den nicht hinten, wo er fällig ist sozusagen. Das ist ja unerträglich. Wenn einer fünfzehn Jahre auf einen Kuss gewartet hat, oder wie Sie sagen, hingearbeitet, und dann kriegt er ihn, wie will man das beschreiben.
Literaturbeilage Ich hab mich beim Lesen auch mal kurz gefragt, ob der vorgezogene Schluss vielleicht eine Art Kampfansage an die Rezensenten ist.
Wolf Haas So weit kammert’s no!
Literaturbeilage Autoren beklagen sich ja oft bitter darüber, dass in der Zeitung schon vorab die ganze Handlung verraten wird.
Wolf Haas Deshalb schreib ich keine Krimis mehr. Da stört es ein bisschen, wenn man schon vorher alles weiß. Aber bei normalen Büchern sehe ich es eher als Hilfe. Als Teamarbeit. Klappentext und Kritiker erzählen vorab die Geschichte, und als Autor kann man sich auf das Kleingedruckte konzentrieren.
Literaturbeilage Gut, dann bleiben wir mal beim »Kleingedruckten«, wie Sie es nennen. Diesen ersten Kuss zu Beginn des Buches beschreiben Sie ja würklich sehr detailliert. Um nicht zu sagen akribisch.
Wolf Haas Streng genommen ist es ja nicht der erste Kuss, sondern der Kuss, bei dem die beiden vor fünfzehn Jahren unterbrochen worden sind.
Literaturbeilage Ja richtig.
Wolf Haas Weil Sie gerade »akribisch« sagen.
Literaturbeilage Diese akribische oder fast pedantische Art, mit der Ihr Ich-Erzähler seinen endlich errungenen Kuss beschreibt, charakterisiert ihn ja schon auf der ersten Seite sehr treffend.
Wolf Haas Ja ich weiß nicht. Das hab ich jetzt schon öfter gehört, dieses Lob sozusagen, dass einem Herr Kowalski gleich so vertraut wird durch die Art, wie er den Kuss beschreibt. Wenn das so rüberkommt, soll’s mir recht sein.
Literaturbeilage Er beschreibt den Kuss, auf den er fünfzehn Jahre gewartet hat, nicht gerade sonderlich romantisch oder so. Sondern fast technokratisch.
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