: Elif Shafak
: Schau mich an
: kein& aber
: 9783036994529
: 1
: CHF 13.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 397
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Die Frau ist so dick, dass sie überall angestarrt wird. Auch ihr Geliebter, ein Kleinwüchsiger, zieht die Blicke auf sich. Doch während sie sich vor der Welt verstecken möchte, drängt er ins Licht - um jeden Preis.

'Schau mich an' ist eines der ungewöhnlichsten Werke von Elif Shafak: eine humorvolle, tragische und Jahrhunderte überspannende Erkundung dessen, was es heißt, andere anzublicken und angeblickt zu werden.die Geschichte führt.



Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Die preisgekrönte Autorin von siebzehn Büchern, darunter 'Die vierzig Geheimnisse der Liebe' (2013) und 'Ehre' (2014), schreibt auf Türkisch und Englisch. Mit 'Unerhörte Stimmen' (2019) stand sie auf der Shortlist des Man Booker Prize. Ihre Artikel und Auftritte machten sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte zunächst in der Türkei, später in ganz Europa. Elif Shafak lebt in London. www.elifshafak.com

istanbul, 1999


Ich träumte von einem Luftballon. Seine Farbe konnte ich nicht erkennen, da aber der Himmel taubengrau war, die Wolken schäfchenweiß und die Sonne honiggelb, musste es eine andere Farbe gewesen sein als Taubengrau, Schäfchenweiß oder Honiggelb. Sonst hätte ich den Luftballon nämlich nicht gesehen. Wenn er zu sehen war, gab es ihn, und wenn nicht, dann nicht.

Der Luftballon stieg sachte empor, die schäfchenweißen Wolken schwebten kokett dahin, der taubengraue Himmel wurde finster und finsterer, die honiggelbe Sonne ging still und leise unter, als auf einmal ein heftiger Wind aufkam. Ein so heftiger, dass wir alle zusammenfuhren. Da prasselten auch schon Kalk und Teer und Lehm auf uns ein, Gesträuch und Gestrüpp, Gezücht und Geschmeiß, Staub und Dreck. Damit der Sturm nicht fortriss, was ich sah, musste ich sofort die Augen schließen. Sobald die Wimpern sich berührten, klang es, als ob Wasser auf heißes Fett spritzte. Dem Luftballon entwich die Luft; in jeder Sekunde außer Sichtweite prustete er in die Leere eine Handvoll Leere hinaus. Was immer er zu sich genommen hatte, spie er wieder aus. In Panik schlug ich die Augen auf. Zu spät. Er war nicht mehr da. Ich schon. Ich war erwacht.

An meinem Bettrand saß BC und sah mich missmutig an.

»Sag mal! Wie lang muss ich dich noch rütteln, bis du endlich aufwachst? Du hast so was von fest geschlafen!«

Noch bevor ich antworten konnte, zog er mir rüde die Bettdecke weg, und ich sah aus wie ein Fischerboot, das mitsamt seinem Netzgewirr nackt und bloß daliegt, weil ihm das Meerwasser davongegurgelt ist. Abrupt war ich um die laue Dunkelheit des Wassers gebracht und musste mich dem Licht aussetzen, in einem Tempo, das mir entsetzlich schnell, BC hingegen elend langsam erschien. Hatten meine Gliedmaßen sich bis dahin im Schutz der Dunkelheit genüsslich ausgebreitet, waren sie nun hektisch um Sammlung bemüht. BCs eindringlicher Appell zog sie an wie ein Magnet.

»Da draußen ist der Teufel los, und die gnädige Frau schnarcht einfach weiter. Los, steh auf und schau dir das Spektakel an.«

Durch die sperrangelweit offen stehende Terrassentür blies der Wind herein und blähte die Vorhänge auf wie in einem Geisterfilm, sodass nur hin und wieder der Himmel durchspitzte. Eine sternenlose, wolkenlose, mondlose Nacht; ein schwarzer Filter, damit meine Augen nicht geblendet wurden.

Ich blieb dem Fenster fern.

Und sah, was ich sah, durch das Auge von BC.

Und was ich fern vom Fenster durch das Auge von BC sah, war dies:

Am Fuß der steilen Straße / kommt eine mollige / bleiche / schnuckelige Frau / um die fünfzig / im Nachthemd / mit Bommeln an den Pantoffeln / aus dem Haus gestürzt / und da steht sie / unter der Laterne / und glotzt und starrt / auf all die Fliegen / die da schwirren / und sich verirren / und sie flucht / und sie sucht / was immer sie verloren / so spät in der Nacht.

Als sie fünfzig wurde / feierte sie / den Schmerz um jedes Jahr / mit einem Kanonenschuss / un