Einleitung
Im Jahre 1864 eröffnen zwei junge Hamburger in einem trostlosen Nest, scheinbar am Ende der Welt, eine einfache Gemischtwarenhandlung. Der Ort an der nordasiatischen Pazifikküste besteht nur aus Militärbaracken und 40 Holzhäusern. Doch diese Pioniersiedlung liegt an einem der besten Naturhäfen der Welt - und schon der Name sagt, dass das Russische Reich damit Großes vorhat: Wladiwostok -"Beherrsche den Osten!"
Das weite und unwegsame Hinterland ist kaum besiedelt. Kleine, versprengte Gemeinschaften von Russen, Chinesen, Koreanern und Ureinwohnern konkurrieren im Ussuri-Gebiet und im Sichote-Alin-Gebirge um die Schätze dieses Landes – Gold, Pelze und Ginseng. Der wahre Herrscher in diesem Land ist noch der Sibirische Tiger.
Wladiwostok blüht auf. 1891 beginnt hier der Bau der Sibirischen Eisenbahn. Schneller noch als die Stadt wächst das"Magazin" von Gustav Kunst und Gustav Albers: Ihr 1884 dort neu errichtetes Kaufhaus ist das erste deutsche Kaufhaus überhaupt. Kunst& Albers verkaufen Landmaschinen aus Mannheim, Bier aus München, französischen Champagner und die letzte Pariser Mode, handeln aber auch en gros mit amerikanischem Mehl und Sachalin-Kohle. Die Firma ist zugleich Bank, Reederei, Wodkafabrik, Schifffahrts- und Versicherungsagentur. In ihrem Häuserblock brennt das erste elektrische Licht östlich des Urals. Kunst& Albers gründen über 30 Kaufhäuser und kleine Filialen in Städten und Dörfern von Russisch-Fernost und in der Mandschurei – sowie Vertretungen in Europa, Japan und den USA.
Die Niederlassung in Port Arthur wird im Krieg mit Japan zerstört, ein plündernder Mob brandschatzt 1905 das Haupthaus in Wladiwostok. Doch Kunst& Albers überstehen auch dies und errichten einen noch prächtigeren Bau am Boulevard der Hafenstadt. Hinter den Kulissen ringen jedoch die Eigentümer verbissen über Jahre um die Vorherrschaft im Unternehmen. Aber nicht die internen Konflikte – der Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird 1914 zur Katastrophe für die Firma. Obwohl ihre Inhaber inzwischen russische Staatsbürger sind: Sie gelten als Deutsche und Deutschland ist der Feind. Neider und Konkurrenten beginnen eine Verleumdungskampagne. Es erscheint sogar ein Roman, in dem finstere Machenschaften deutscher Geheimagenten unter dem Deckmantel einer Firma namens „Artig& Weiß“ dargestellt werden. Autor ist der windige Journalist und Naturwissenschaftler Anton Ferdinand Ossendowski. Er schreckt bei seiner Kampagne gegen Kunst& Albers selbst vor Erpressung und einer historischen Fälschung nicht zurück, die sogar die US-Regierung hinters Licht führt.
Adolph Dattan, Mitinhaber und Seniorchef in Wladiwostok, trifft Ossendowskis Intrige am schwersten: Unter Spionageverdacht wird er 1915 ins Innere Sibiriens verbannt. Den Juniorchef Alfred Albers steckt man ins Militär. Noch bis Ende der 1920er Jahre können sich Kunst& Albers in Wladiwostok halten, doch dann drücken die Sowjets dem Unternehmen die Luft ab. Die Firma verlagert ihre Geschäfte nach China und Ostasien – wo sie dann im Zweiten Weltkrieg faktisch untergeht.
Wladiwostok, der Schauplatz dieser dramatischen Erfolgsgeschichte einiger tüchtiger deutscher Kaufleute ist heute – anders als vor über einem Jahrhundert! – aus europäischer Perspektive ein fremder, unbekannter Ort. Es liegt außerhalb unserer kognitiven Karten, jenseits von Sibirien, irgendwo sehr weit im Osten. Die Stadt ist sogar ein gern zitiertes Synonym für den östlichen Rand der Gemeinschaft europäischer Nationen – sofern Russland da nicht von vornherein ausgeschlossen wird: Gelegentlich taucht ihr Name in der Formulierung „von Lissabon bis Wladiwostok" auf.
Nur wenige Mitteleuropäer dürften eine Vorstellung davon haben, wie es in Wladiwostok aussieht, welches Klima dort herrscht und sogar davon, welcher ethnischer Menschenschlag dort lebt. Allenfalls Eisenbahn-Enthusiasten heben spontan den Finger:"Endstation der Transsibirischen Eisenbahn!". Das Vertrautheitsdefizit kommt nicht von ungefähr: Wladiwostok war in der Sowjetzeit wegen seiner Militärbasen für den Besuch von Ausländern gesperrt. Über Jahrzehnte war die isolierte Stadt für den Rest der Welt kaum mehr als das nebelverhangene G