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Der Junge zeigt obsessive Tendenzen, die Sie sich zunutze machen können. Gewinnen Sie seine Loyalität, und er wird Sie niemals hintergehen.
Im Aufnahmebericht festgehaltene psychologische Beurteilung über Ethan Night, sechs Jahre, für den Ratsherrn Ming LeBon (2061)
Selenka gab den Bären die Schuld.
Hätte Valentin nicht ausgerechnet Silver Mercant geheiratet, würden sie alle sich jetzt nicht auf diesem Symposium zu einem leichten Angriffsziel machen. Es kam einer Einladung mit blinkender Leuchtschrift gleich: »Hier sind wir! Los, schlagt zu.«
Als spürte er ihren lodernden Blick, unterbrach das Alphatier der StoneWater-Bären sein Gespräch mit einem ranghohen Clanmitglied, sah sie an und winkte ihr breit grinsend zu. Sie funkelte ihn an, denn sie war nicht in der Stimmung, sich von seinem Charme einwickeln zu lassen.
»Sie sind keine Freundin von Bären?«, fragte eine klare, ruhige Männerstimme in akzentfreiem Russisch.
Selenka hatte gemerkt, dass der Mann sich ihr näherte. Sie wäre nicht die Leitwölfin eines der mächtigsten Rudel Russlands, wenn Leute sich unbemerkt an sie heranschleichen könnten. Allerdings hatte sie, was das betraf, von der anderen großen Gestaltwandlergruppe in der Region kaum etwas zu befürchten. In Sachen Verstohlenheit waren die Bären in etwa so geschickt wie tonnenschwere Elefanten.
Aber von diesem Mann ging eine tiefe Stille aus. Der Geruch eisiger Winde, die sengend heiße blaue Flammen umtosten, ohne eine Spur des kalten metallischen Gestanks, auf den die Gestaltwandler unter den Medialen zu achten gelernt hatten. Weil jene, denen er anhaftete, sich der gefühllosen Herrschaft von Silentium, wie sie das Programm nannten, vollkommen und meist unwiderruflich ergeben hatten.
»Erst gestern musste ich drei eigentlich gesittete Wölfe gegen Kaution aus dem Gefängnis herauspauken«, sagte sie zu dem Mann, der neben ihr stand und sie mit ihren ein Meter achtzig knapp überragte, ohne ihn anzusehen. »Wollen Sie den Grund wissen?«
»Die Bären?«
»Volltreffer«, bestätigte sie grimmig. »Ein paar nette Bären haben meine Wölfe dazu überredet, sich einen Drink ›auf gute Freundschaft‹ mit ihnen zu genehmigen. Welche exakt so lange währte, bis in der Bar eine Massenrauferei ausbrach.« Die Bären hatten sich königlich darüber amüsiert und immer noch vergnügt gegrinst, als Selenka ihre drei Pappnasen aus der Arrestzelle holte.
Sie selbst fand das überhaupt nicht komisch.
Ihre Rudelgefährten waren disziplinierte Raubtiere; sie zogen nicht durch die Bars und zettelten Keilereien an. Erst recht nicht solche, die damit endeten, dass einer von ihnen hinterher nach Himbeer-Daiquiri stank, seine blonden Haare rosa verfärbt von dem riesigen Cocktail, den man ihm über den Schädel gekippt hatte. Die drei würden zur Strafe bis ins nächste Jahr hinein die Renovierungskosten der Bar abarbeiten.
Die Disziplin ihrer Wölfe war nicht nur Selenkas hartem Führungsstil geschuldet, sondern auch den unterschiedlichen Temperamenten der Tiere, die ihre zweite Hälfte waren. Bären konnten erbarmungslose Jäger sein, aber im Allgemeinen waren sie gutmütige Gesellen, solange man sie nicht provozierte. Man musste einen Bären schon mehrmals mit einem Stock piksen, damit er brummend mit der Tatze ausholte.
Wölf