: Michael Crummey
: Die Unschuldigen Roman
: Eichborn AG
: 9783732595051
: 1
: CHF 8.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Der elfjährige Evered und seine zwei Jahre jüngere Schwester Ada wachsen unter kargen Bedingungen auf. Sie sind die Kinder von Fischern, die allein inmitten der kanadischen Wildnis leben.

Als ihre Eltern sterben, sind die Geschwister auf sich allein gestellt; sie wissen nur das von der Welt, was sie von Mutter und Vater gelernt haben. Also führen sie deren hartes Leben nach Kräften weiter. Bis die Loyalität der Geschwister auf die Probe gestellt wird und sie für ihre Zukunft kämpfen müssen.

MARY ORAM. IHRE WERKZEUGE.


Noch Wochen nachdem der Vater gestorben war, verbrachten die Kinder die meiste Zeit schlafend im Bett, wo es warm war und sie den tröstlichen Atem des anderen neben sich hörten. Die Tage waren kurz, die einzige glaslose Fensteröffnung war mit einem Laden gegen Kälte und Wind verschlossen, sodass die Zeit in einem Wechsel aus kaltem Dämmerlicht und absoluter Dunkelheit verstrich.

Jeden Tag nach Sonnenaufgang machte Evered Feuer. Sobald die unerträgliche Kälte ein wenig nachgelassen hatte, hob er Ada aus dem Bett, wie früher, als sie noch eine kleine Pisstrine von zwei oder drei Jahren gewesen war, setzte sie auf den Toiletteneimer und blieb so dicht bei ihr stehen, dass sie sich bibbernd an sein Bein lehnen konnte. Sie war nur wenig kleiner als er, aber dünn wie ein Stecken, in jeder Hinsicht noch ein Kind, abgesehen von den Händen, die schon seit Jahren Erwachsenenarbeit verrichteten und an die spröden Hände eines alten Weibes erinnerten. Dabei umklammerte sie wie ein Überbleibsel aus besseren, unwiderruflich vergangenen Tagen eine Puppe, die sie aus Lumpen für ihre kleine Schwester genäht hatte. Sie lehnte den Kopf an die Oberschenkel des Bruders, bis sie fertig war, dann trug er sie zurück ins Bett, wo sie einander umarmten, um die lähmende Stille zu verdrängen.

Keines der Kinder hatte nennenswerten Appetit oder brachte es fertig, eine richtige Mahlzeit zuzubereiten. Evered erwärmte jeden Tag aufs Neue einen grindigen Topf Erbsensuppe und bot Ada eine Schüssel an, konnte sie aber nicht überzeugen, davon zu essen. Sie ernährte sich ausschließlich von Hartkeks, den sie im Bett liegend zu Brei zerkaute. Sie sprachen kaum miteinander. Manchmal wurde Evered in der Dunkelheit wach und hörte Ada laut flüstern, doch er konnte weder verstehen, was sie sagte, noch, mit wem sie redete, und traute sich auch nicht, sie zu fragen.

Von Zeit zu Zeit wagte er einen Vorstoß nach draußen, um den vollen Toiletteneimer zu leeren, frisches Wasser vom Bach herzuschleppen oder einen Arm voll Brennholz zu spalten. Der Holzstapel gleich bei der Hütte nahm stetig ab, und Evered war, als schwinde im gleichen unabänderlichen Tempo auch in ihm etwas dahin. Er fühlte sich benommen von zu wenig Essen, zu viel Zeit