: Amity Gaige
: Unter uns das Meer Roman
: Eichborn AG
: 9783732595020
: 1
: CHF 8.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 381
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

'Amity Gaige ist eine begnadete Erzählerin. Sie ergründet unsere Gegenwart, öffnet dem Leser die Augen und schenkt Geborgenheit.' JONATHAN FRANZEN


Die Havarie einer Ehe, ein Segeltörn in der Karibik. Mit großem erzählerischem Geschick entfaltet Amity Gaige ein nautisches und menschliches Drama.

Juliet arbeitet an ihrer Dissertation und lebt mit den beiden Kindern und ihrem Mann Michael ein Vorstadtleben. Michael gelingt es, sie für seinen großen Traum zu begeistern: ein Jahr auf hoher See auf einer Segelyacht zu verbringen. Atemlos steuern wir mit der vierköpfigen Familie in der Karibik dem dramatischen Finale entgegen.


'V el mehr als nur eine packende Story auf hoher See. Gaige ist unfassbar begabt und ihr Roman fesselt.'JENNIFER EGAN


''U ter uns das Meer' erweckt nicht nur die Gefahren auf hoher See auf brillante Weise zum Leben, sondern auch die versteckten Unwägbarkeiten von Familienleben, Mutterschaft und Ehe. Was für ein schlauer, eleganter und aufregender Roman.'LAUREN GROFF



Amity Gaiges letzter Roman"Schroders Schweigen" erschien 2013 und war für den Folio Prize nominiert. Es war eines der besten Bücher des Jahres für u.a. die New York Times Book Review, Huffington Post, Washington Post und das Wall Street Journal. Amity Gaige ist eine Fulbright und Guggenheim Fellow. Sie lebt mit ihrer Familie in Connecticut.

I


Wo genau nimmt ein Fehler seinen Anfang? In letzter Zeit finde ich es schwer, diese einfache Frage zu beantworten. Unmöglich im Grunde. Ein Fehler hat seine Wurzeln an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt – wo hat man sich befunden und was hat man sich im entscheidenden Moment gedacht? Irgendwo im Schnittpunkt dieser beiden Faktoren lässt sich der Fehler finden – nautisch ausgedrückt: seine Koordinaten.

Beginnt mein Fehler beim Boot? Oder schon bei meiner Ehe? Ich glaube nicht. Seine Wurzeln muss mein Fehler in einer unschuldigen Erfahrung haben, der nachzugehen ich vergessen habe, in einem Rätsel, das mein Leben seitdem stillschweigend beherrscht hat. Zum Beispiel erinnere ich mich daran, wie ich mit zwölf Jahren neben einem blendend blauen Howard-Johnson’s-Motel-Pool gestanden und beobachtet habe, wie sich ein Paar hinter einem halb offenen Vorhang gegenseitig ausgezogen hat, während sich mein mir bereits fremd gewordener Vater in der Lobby über die Rechnung beschwerte. Hätte ich wegschauen sollen? Oder bin ich schon früher vom Weg abgekommen, als ich auf dem grob gestrickten Teppich im hellen Kindergartensonnenschein saß, mich zu dem Jungen neben mir lehnte und bereit war, mir sein aufgeregtes Flüstern anzuhören? Seinen Speichel spüre ich immer noch wie Tau in meinem Ohr.

Und jetzt sitze ich in einem Schrank.

In Michaels Schrank.

Ich sollte das erklären.

Ich bin vor ein paar Tagen eingezogen. Eigentlich habe ich etwas von ihm gesucht, aber dann ist mir aufgefallen, wie flauschig der Teppich hier drin ist. Die Klapptüren mit den Lamellen filtern das Sonnenlicht auf wunderschöne Weise. Ich komme zur Ruhe hier drin.

Sich in Schränken zu verstecken, ist eine Kinderangewohnheit, ich weiß. Als Kind habe ich mich immer im Schrank meiner Mutter verkrochen. Darin befanden sich Seidenkleider und Wollsachen, die sie nie angezogen hat. Ich habe es geliebt, mit diesen Stoffen über meine Haut zu streichen, in ihre High Heels zu steigen wie auf ein Podium und meine Zukunft zu proben. Geschämt habe ich mich dafür nie.

Ganz bestimmt gibt es einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass ich früher im Kleiderschrank meiner Mutter Zuflucht gesucht habe, und der Tatsache, dass ich mich jetzt in Michaels Schrank verstecke. Aber das hilft mir auch nicht weiter.

Manchmal schreibt einem das Leben winzige, schreckliche Gedichte.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffe, diesen Tag zu überleben.

Ich meine, ob ich es will.

Das Haus zu verlassen,rauszugehen, erfordert Vorbereitung und Selbstüberwindung. Würde ich tatsächlich vor die Tür treten, wieder durch die Gegend laufen, Menschen treffen und Einkäufe erledigen, würde ich all das wirklich schaffen, käme zwangsläufig jemand auf mich zu, um mich zu fragen: Wünschst du dir, du wärst nie gefahren? Und man wird erwarten, dass ich antworte: Ja, unsere Reise war ein Fehler.

Vielleicht würden die Leute hoffen, dass ich das sage.

Doch meine Zustimmung zum Boot war mein klarstes Bekenntnis zu meinem Ehemann. Ich kann mir nicht leisten, das zu bereuen.

Würde ich es tun, würden mir nur die vielen Male bleiben, in denen ich nicht loyal gewesen bin.

17. Januar. 10:15 Uhr. LOGBUCH DER YACHTJULIET.

Von Provenir nach Cayos Limones. 09° 33.5′ N 078° 59.98′ W. NW-Wind 10 Knoten. Wassertiefe 2–4 Fuß. NOTIZEN UND ANMERKUNG