: Matthias Jügler
: WIR. GESTERN. HEUTE. HIER. Texte zum Wandel unserer politischen Werte
: Piper Verlag
: 9783492997256
: 1
: CHF 15.40
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: Anthologien
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
20 deutschsprachige AutorInnen beziehen Position. Sie blicken zurück in ihre Vergangenheit, um von persönlichen Erfahrungen zu erzählen. Alle verbindet der Wunsch zu verstehen. Zu verstehen, was aktuell passiert mit und in Deutschland und wo die Wurzeln dafür liegen, was unsere Gesellschaft momentan umtreibt. So treten Verbindungen zwischen gestern und heute ans Licht, zwischen Wende und Rechtsruck, Tschernobyl und grünem Engagement, Landflucht und Gentrifizierung, Patriarchat und Gleichberechtigung, Erwartung und Status Quo. 20 aufrüttelnde, erhellende, anklagende, versöhnliche, nachdenkliche und engagierte literarische Texte, die zeigen, dass uns das Gestern nicht egal sein darf, wenn wir an heute denken.

Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und übersetzt Literatur aus dem Norwegischen. Jügler war Stadtschreiber in Pfaffenhofen, erhielt ein Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin für seinen Debütroman Raubfischen (Blumenbar, 2015) und war Writer in Residence des Goethe-Instituts in der Hauptstadt Usbekistans Taschkent. Er lebt in Leipzig

Christian Bangel 
Uns hat der Osten gebissen


Kaum jemand hat je so traurig die Neunziger im Osten Deutschlands beschrieben wie Trettmann in seinem SongGrauer Beton. Nicht so sehr die Neunziger der Treuhand und der Abwicklungen, sondern eher die des Davonlaufens der Jüngeren vor der Düsternis, vor der Gewalt auf den Straßen.

Folg dem Wendekind dorthin, wo man noch Hände ringt,
Unbeschwerte Jahre früh zu Ende sind,

Dir niemand sagt, dass es ’n gutes Ende nimmt.

 

Seit ichGrauer Beton zum ersten Mal gehört habe, frage ich mich, wann genau die unbeschwerten Jahre bei mir endeten. Wann war meine Kindheit vorbei? Wann war das genau, als das Gefühl einsetzte, dass die Alten den Kindern nicht mehr viel erklären, sie nicht mehr beschützen konnten? Und aus Kinderfreunden Feinde wurden?

 

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es früh war, vielleicht früher als bei vielen Gleichaltrigen im Westen. Bis heute empfinde ich eine unbestimmte Angst vor einem Abgrund. Vor sozialer und emotionaler Verwahrlosung, Einsamkeit. Ich glaube, dass das auch die Folgen einer zu früh beendeten Kindheit sind. Und ich glaube, dass es nicht wenigen meiner Generation aus dem Osten genauso geht. Die Gründe, so individuell sie sich teilweise erklären lassen, haben bei vielen von uns ähnliche Wurzeln. Egal, ob Dealer oderDJ, Sprayerin oder Streberin: Irgendwas in derDDR oder in der Zeit danach hat viele vernarbt. Irgendwann hat uns der Osten gebissen.

 

Bei mir fing es schon früh mit dem »Ernst des Lebens« an. Ich wurde 1985 eingeschult, lange bevor dieDDR starb. Vor einem großen grauen Klotz vom Bautyp »Erfurt« hielt ich stolz meine Schultüte. Die Onkels in Jeanshemden und Tanten in geblümten Kleidern, sie nannten es wirklich so: den »Ernst des Lebens«. In meiner Erinnerung sprachen sie immer mit einem wohligen Schaudern von der Schule, ehrfürchtig, bisweilen sogar ein bisschen schadenfroh. So, als sei es nur gerecht, dass ich das jetzt auch erleben muss.

 

Meine Lehrer waren die Ersten, die mich nicht mehr wie ein Kind behandelten. Von ihnen beschützt gefühlt habe ich mich nie. Meine Schulzeit in derDDR, das waren Schläge auf den Hinterkopf, wenn die Hausaufgaben falsch waren, das war der Tadel auf dem Schulhof, weil ich irgendwas wiederholt vergessen hatte. Das waren brüllende Männer und Frauen, das war das hölzerne Tafellineal, das mit voller Wucht auf den Tisch krachte. Das war die Erziehung dazu, das »Richtige« zu sagen. Auch wenn es ironiefähige, gewaltfreie Lehrer gab: Die Schule gehörte zu diesem System, das autoritäre Persönlichkeiten erzog.

Die Wende aber machte auch viele Lehrer ratlos. Was sollten sie denn jetzt erzählen? Manche siezten einen plötzlich, andere bekamen Wutausbrüche, wieder andere redeten auf einmal von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft. Und ich erinnere mich, dass eine, die uns das neue Schulsystem erklärte, sinngemäß sagte: Es gibt Hauptschule, Realschule, Gymnasium. Hauptschule heißt »keine Chance«, Gymnasium heißt »vielleicht ’ne Chance«. So schnell wurde aus dem autoritären Sozialismus der autoritäre Neoliberalismus.

 

Es gibt eine Fernsehreportage vom Oktober 1990, ein Sender strahlte sie vor Jahren noch mal aus. An diesen Tagen um die Wiedervereinigung herum besuchte ein Kamerateam eine 5. Klasse in Frankfurt (Oder). Ich war damals auch Fünftklässler in Frankfurt (Oder). Noch zwanzig Jahre später erkannte ich mich in den Bildern wieder. Die Kinder sprechen besorgt wie Erwachsene von Arbeitslosen und Rechtsextremen. Noch viel mehr: Sie schauen wie die Erwachsenen. So