Kapitel 1
Die Rosen sehen traurig aus, dachte Johanna, und das lag nicht nur daran, dass der Herbst das Land schon voll im Griff hatte und sie mit verzweifelter und letzter Kraft blühten. Der ganze Rosengarten wirkte vernachlässigt und brauchte dringend eine ordnende Hand, damit die Stöcke wieder in voller Pracht erstrahlen konnten. Sie sollte sich bald mal darum kümmern – nur wann?
»Oma!« Die Stimme ihrer Enkelin Feemke riss sie aus ihren Gedanken. »Ich hab dich schon überall gesucht!« Blonde Locken umtanzten das kleine erhitzte Gesicht.
»Ihr seid schon da?«, fragte Johanna erfreut und lief auf die Kleine zu, um sie in den Arm zu nehmen.
»Mama ist ganz schnell gefahren, weil sie ja gleich wieder los muss, um morgen zu demolieren!«, plapperte die Fünfjährige.
Johanna unterdrückte ein Kichern. Ihre Tochter Adda brachte Feemke vorbei, weil sie morgen nach Bonn zu der großen Friedensdemonstration fahren und die Kleine natürlich nicht mitnehmen wollte.
»Moin, Mama!«, sagte Adda, die nun ebenfalls in den Garten trat und auf ihre Mutter zueilte. Wie immer wirkte sie ein bisschen hektisch, das hatte sie sich angewöhnt, seit sie in der Großstadt lebte. Johanna wollte sie in den Arm nehmen, zuckte dann aber zurück, weil Adda das nicht mochte. Sie küsste ihre Mutter nur kurz auf die Wange und schaute sich nach Feemke um.
Johanna war bemüht, ihre Verletzung über die spröde Begrüßung ihrer Tochter nicht zu zeigen. Ihre Verbindung war schon immer problematisch gewesen, aber nachdem Adda erfahren hatte, dass nicht Johannas verstorbener Mann Eike, sondern ihre große Liebe Rolf Addas Vater war, hatte es einen tiefen Riss zwischen ihnen beiden gegeben.
»Möchtest du einen Tee? Du siehst müde aus«, fragte Johanna in der Hoffnung, dass Adda wenigstens ein bisschen Zeit mitgebracht hatte. Aber ihre Tochter schüttelte den Kopf. »Nein, mach dir bitte keine Mühe. Ich würde gern sofort wieder los.« Adda schaute Johanna an. Sie schien ihre Enttäuschung wohl doch zu bemerken. »Es tut mir leid, ich weiß, dass du es besser fändest, wenn ich ein bisschen bleiben würde, aber ich muss für morgen noch ein paar Sachen packen, und außerdem will ich zeitig ins Bett«, sagte sie entschuldigend.
»Ist schon gut. Für Feemke hast du alles dabei?«
Ihre Tochter nickte. »Die Tasche steht schon in der Küche auf der Bank.« Adda warf einen Blick zum Rosengarten. »Der hat echt auch schon bessere Tage gesehen! Ich würde ihn plattmachen.« Sie musterte ihre Mutter. »Okay, falsche Ansage. Du hängst daran, warum auch immer.«
»Ich mag diesen Teil des Gartens sehr«, bestätigte Johanna.
Adda zuckte mit den Schultern. »Musst du ja wissen. Dann hol dir einen Gärtner, es ist bestimmt mächtig viel Arbeit, ihn wieder in Ordnung zu bringen.«
Sie rief Feemke, die in den hinteren Bereich des Gartens gerannt war. Dort stand sie an der Graft und stocherte mit einem Stock im Wasser herum. »Süße, ich will los!«
Ihre Tochter drehte sich um, hüpfte auf sie zu, schlang die Arme um Addas Hals und küsste sie. »Ich wein auch nicht, weil ich nämlich gern auf dem Nordseehof bin. Du kannst ruhig fahren, Mami.«
»Ich weiß.« Adda gab Feemke einen liebevollen Klaps und lächelte, als sie schon wieder zum Wasser zurücklief und dabei merkwürdige Hopser machte.
»Sie ist ein bisschenzu gern hier«, sagte sie zu Johanna, die die beiden beobachtet hatte.
»Sei froh, so sind solche Übergaben problemlos. Du holst die Lütte am Sonntag wieder ab?«
Adda nickte. »Ich denke, ohne Dirk. Er wird wohl mal wieder mit anderen Dingen beschäftigt sein. Wie immer.«
Um Addas Mund legte sich kurz ein trauriger Zug, doch sie ließ ihn nicht lange zu und verzog das Gesicht sofort wieder zu einem Lächeln.
Johanna ahnte, dass die Ehe ihrer Tochter noch weiter Schlagseite bekommen hatte und das Kentern inzwischen absehbar war. Feemke erzählte oft, wie sehr der Haussegen in Bremen schief hing.
»Gut, ich muss dann los.« Adda schabte mit der Schuhspitze über den Boden. Es schien ihr unangenehm zu sein, ihr Kind immer nur auf dem Nordseehof abzuliefern und ihrer Mutter nicht das geben zu können, was sie sich so sehr wünschte. Vergebung.
»Ist alles gut, wir kommen schon klar, Feemke und ich«, baute Johanna ihr eine Brücke. Sie wollte es Adda so leicht wie möglich machen, Liebe konnte man schließlich nicht erzwingen.
Adda nickte ihr zum Abschied zu und