Kapitel 1
Johanna trat aus dem großen schmiedeeisernen Tor des Nordseehofs und atmete tief durch. Es war zwar noch kühl, aber an diesem Märzmorgen schien die Sonne vom wolkenlosen Himmel, die Vögel trällerten, und die Welt erwachte aus dem Winterschlaf. Erste Krokusse streckten trotz des kalten Windes ihre bunten Blüten schon recht mutig aus der Erde, und gestern hatte Johanna sogar eine Narzisse blühen gesehen. Es würden die letzten ruhigen Tage sein, denn auf dem Nordseehof, der großen Schäferei in der Nähe von Neusiel, begann bald die Lammzeit. In dieser Periode gab es kaum eine Nacht, in der Johanna und ihr Mann Eike durchschlafen konnten.
Eike, Johanna und Hauke Hillers, ihr Arbeiter, hatten schon jetzt alle Hände voll zu tun. Alle anderen Mägde und Knechte, die es früher auf dem Nordseehof gegeben hatte, waren mit der zunehmenden Technisierung nach und nach verschwunden und hatten sich woanders Arbeit suchen müssen. Viele waren bei den Olympia-Werken in Roffhausen untergekommen und standen nun am Fließband.
Johanna seufzte, denn die Arbeit wuchs ihr dennoch so manches Mal über den Kopf, vor allem, wenn die Lämmer kamen.
Bei einigen Mutterschafen mehrten sich bereits die An-
zeichen, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Sie hatten sich von den anderen Tieren, die in den Stalltrakten in zwei Gruppen frei herumliefen, abgesondert. Ihr Euter wirkte prall.
Eike hatte alle zu Schichten eingeteilt, von jetzt an war es wichtig, dass immer jemand im Stall war und die Tiere beobachtete. Auch ihre Tochter Adda musste mit ihren achtzehn Jahren ran, ebenso wie der drei Jahre ältere Uwe.
Vor allem Adda war wenig davon begeistert, ständig im Stall arbeiten zu müssen. Sie muckte zunehmend auf und träumte von einem anderen Leben als dem in Ostfriesland. Adda konnte sehr hitzig werden, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, und auch wenn Uwe sich meist zurückhielt, so wusste Johanna, dass auch er damit liebäugelte, den Nordseehof eines Tages zu verlassen. Er träumte davon, Tierarzt zu werden, doch Johanna hoffte, dass er davon absah und blieb, auch wenn es ein egoistischer Gedanke war und sie es besser wissen sollte, nach alldem, was sie selbst durchgemacht hatte. Trotzdem hatte man im Leben eben nicht immer die Wahl. Nur fiel ihr der Gedanke, dass ausgerechnet Uwe gehen könnte, besonders schwer. Sie hatte ihren Ältesten sehr an sich gebunden, ihm in seinem Leben nur wenig Leine gelassen, und so konnte sie sich kaum vorstellen, dass er einmal nicht mehr da war.
Johanna seufzte. Wie schön war es doch früher gewesen, als ihre Tochter noch mit Uwe Cowboy und Indianer gespielt hatte und sie durch den Garten gestromert waren! Alles hatte seinen geregelten Ablauf gehabt, nichts war hinterfragt worden, und keiner wollte fort. Der Nordseehof war der Mittelpunkt von allem. Ihr Zuhause.
Johanna schob die Gedanken beiseite. Sie hatte heute keine Lust, Probleme zu wälzen, während die Natur gerade aufblühte und ihre wunderbaren Farben und Düfte mit ihr teilte. Diese kurze Flucht wollte sie ein bisschen genießen.
Johanna beschloss, ein Stück zu gehen. Leise trällerte sie das Lied dieser schwedischen Gruppe, das sie kürzlich im Fernsehen gehört hatte. Ilja Richter hatte sie alle vorgestellt, aber Johanna hatte die einzelnen Namen schon wieder vergessen. Offenbar hatte die Gruppe noch keinen Bandnamen.
»People need love …«, sang Johanna leise. Wie wahr! Liebe, die brauchte jeder. Dieses einzigartige Gefühl. Einmal hatte sie davon kosten dürfen, und sie zehrte noch immer davon. Vor allem, wenn sie allein war und sich die Erinnerung gönnte. Doch meist verbot sie sich jeden Gedanken an ihre große Liebe Rolf Menzel, der nach dem Krieg als schlesischer Vertriebener auf dem Nordseehof gelebt hatte. Er war für sie verloren, denn sie hatte damals Eike geheiratet. Nicht freiwillig, es war der Wunsch ihrer Eltern gewesen. Ihr Bruder Keno war nicht aus dem Krieg zurückgekommen, und die Eltern hatten ihrem Cousin Ingo den Hof gegeben. Johanna hatte schnell unter die Haube gemusst, und da Eike der Erbe vom Nordseehof war und ihre Eltern sie gut versorgt wissen wollten, hatte Johanna keine Wahl gehabt. Aber ihr, ihr hatte es das Herz gebrochen. Sie liebte Rolf noch immer, auch wenn sie sich nach all den Jahren mit Eike arrangiert hatte. Doch dieses tiefe, einmalige Gefühl, das sie mit Rolf verband, war mit nichts vergleichbar. Johanna erinnerte sich nicht gern an die Stunden voller Schmerz, als sie dieser Liebe hatte entsagen mü