EINS
Über der Stadt, auf der Hügelkuppe, stand einst der steinerne Engel. Ich frage mich, ob er noch jetzt dort steht, zum Gedenken an die Frau, die ihren schwachen Geist aufgab, als ich meinen sturen gewann: der Engel meiner Mutter, den mein Vater mit Stolz erwarb, um ihr Gebein zu markieren und seinem Namen, wie er glaubte, auf immer und ewig ein Denkmal zu setzen.
Sommers wie winters blickte er ohne zu sehen auf die Stadt. Er war zweifach blind, nicht nur steinern, sondern nicht einmal mit dem Anschein von Augenlicht ausgestattet. Der unbekannte Bildhauer hatte die Augäpfel unbehauen gelassen. Es kam mir seltsam vor, dass der Engel über der Stadt stand und uns alle in den Himmel rief, ohne auch nur zu wissen, wer wir waren. Doch seinerzeit war ich zu jung, um den Sinn dahinter zu erkennen, auch wenn mein Vater mir oft erzählte, er sei für Unsummen aus Italien geholt worden und aus reinem weißem Marmor. Heute glaube ich, dass er dort in jener fernen Sonne von Steinmetzen gemeißelt wurde, die Berninis zynische Nachfolger waren, erstaunlich genau die Bedürfnisse frischgebackener Tyrannen in einem wilden Land erkannten und Engel wie ihn in rauen Mengen fabrizierten.
Seine Flügel wurden im Winter vom Schnee, im Sommer vom Flugsand zerfressen. Er war nicht nur der einzige Engel auf dem Friedhof von Manawaka, er war auch der erste, der größte und mit Sicherheit der teuerste. Die anderen waren, das weiß ich noch, eine minderwertige Art, kleinliche Engelchen, Cherubim mit steinernen Schmollmündern, von denen einer ein steinernes Herz in die Höhe hielt, ein anderer in ewiger Stille auf einer kleinen steinernen Harfe spielte, und wieder ein anderer mit verzücktem Grinsen auf eine Inschrift zeigte. Ich erinnere mich an diese Inschrift, weil wir uns über sie lustig gemacht haben, als der Grabstein dort aufgestellt wurde.
VON LEID BEFREIT
IM PARADIES
REGINA WIES
1886
So viel zur armen Regina, lang vergessen in Manawaka – wie zweifellos auch ich, Hagar, vergessen bin. Und trotzdem habe ich immer gedacht, selbst schuld, denn sie war fade wie Eiercreme, ein mickriges Ding ohne Mumm, das mit märtyrerhafter Hingabe Jahr für Jahr eine undankbare und fuchsmäulige Mutter betreute. Als Regina an irgendeinem undurchsichtigen Jungfernleiden starb, erhob sich die schändliche alte Dame von ihrem siechen Lager und lebte zur Verzweiflung ihrer verheirateten Söhne noch geschlagene zehn Jahre.Ihr braucht man die Einkehr ins Paradies nicht zu wünschen, denn sie wird boshaft lachend in der Hölle wohnen, während die keusche Regina seufzend im Himmel hockt.
Im Sommer war die Luft auf dem Friedhof zäh wie Sirup vom Bestatterparfüm der dort gepflanzten Pfingstrosen in Blutrot und Tapetenmusterrosa, die mit ihren schwülstigen bleiernen Blütengehängen viel zu schwer waren für die zarten Stängel, gebeugt von der Last ihrer selbst und des Regens, befallen von aufstrebenden Ameisen, die durch die üppigen Blumenblätter schlenderten, als wären sie dafür gemacht.
Als Mädchen bin ich oft dort spazieren gegangen. Die Auswahl an Wegen konnte seinerzeit nicht allzu groß gewesen sein, wo man vornehm gehen konnte, ohne sich die weißen Lederstiefel und schwingenden Rocksäume von Disteln zerreißen oder in unziemliche Unordnung bringen zu lassen. Wie sehr ich darauf bedacht war, ordentlich zu sein, ja ich stellte mir vor, das Leben sei nur dafür geschaffen, um Ordnung zu zelebrieren wie Pippa mit ihren pingeligen Trippelschritten. Doch manchmal, mit dem heißen despektierlichen Windrausch, der in die Straucheiche und spröde Quecke fuhr, jene Rivalen der pflichtgetreu gehegten Wohnungen der Toten, stieg kurz der Duft von Dotterblumen auf. Tief verwurzelt waren sie, diese wilden und grellen Blumen, und auch wenn sie an den Rand des Friedhofs gedrängt und ausgerupft wurden von liebenden Verwandten, die wildentschlossen waren, die Parzellen klar und sichtlich zivilisiert zu halten, ließ sich dort für ein oder zwei Sekunden der staubige Moschushauch alles Wildwuchernden wahrnehmen, das immer schon gewachsen war, vor den Pfingstrosen und starrflügligen Engeln, als die Prärien nur von Cree-Indianern mit steinerner Miene und fettigen Haaren durchwandert wurden.
Jetzt stürzen die Erinnerungen auf mich ein. Ich lasse mich nicht