Kapitel 1
Ein Unglück kommt selten allein, heißt es.
Kevin Edelhoff traf es an diesem Dienstag in der letzten Juliwoche gleich zweimal. Pünktlich zu den Sommerferien hatten er und seine Klassenkameradinnen und -kameraden eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn quer durch Russland gebucht (mit anschließendem Fährentransfer nach Kobe an der japanischen Nordküste und von dort weiter nach Kioto und Tokio); doch schon auf der Eisenbahnfahrt traf ihn das Schicksal mit der Wucht eines Presslufthammers: Mitten auf der Strecke zwischen Aachen und Köln blieb sein Zug mit einem Lokschaden liegen, und es dauerte mehr als anderthalb Stunden, ehe endlich eine Hilfslok eintraf und die defekte Diesellokomotive mitsamt ihrem Wagenpark in den nächsten Bahnhof zog.
Als Kevin an diesem verregneten, sturmgepeitschten Vormittag, der seiner Seelenlage entsprach, dann doch auf dem Köln-Bonner Flughafen eintraf, war die Tupolew nach Moskau ohne ihn abgeflogen. Mit seinen siebzehn Jahren rang er mit den Tränen. Sein gesamtes Bargeld befand sich in der Klassenkasse, die Sabine, ihre Klassensprecherin, während der Reise bei sich führte. Er besaß lediglich dreißig Euro, die ihm seine Mutter bei ihrem Abschied zugesteckt hatte. Was tun? Den Flieger konnte er unmöglich einholen. Sollte er nach Hause zurückfahren? Seine Eltern (und seine Schwester Lisa) hatten unweit von Luzern ein Ferienhaus am Vierwaldstätter See gemietet und waren, kurz nachdem er das Haus verlassen hatte, ebenfalls aufgebrochen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ihr silbergrauer Z8 längst das Walldorfer Kreuz hinter sich gelassen und brauste auf der A5 in Richtung Karlsruhe der schweizerischen Grenze entgegen. Kevin sah seine Familie vor sich. Natürlich fuhr sein Vater permanent auf der Überholspur, denn er liebte es, seiner hochgezüchteten Nobelkarrosse die Sporen zu geben; seine Mutter hatte eine CD mit klassischer Musik in das Fach ihres Wechslers geschoben und schwelgte in den schönen Klängen, während Lisa sich die Mini-Kopfhörer ihres Walkmans in die Ohrmuscheln gesteckt hatte und Xavier Naidoo, Atomic Kitten oder No Angels hörte.
Seine Eltern würden drei Wochen in der Schweiz verbringen, und so lange sollte sich Kevin mit dreißig Euro über Wasser halten – ein Unterfangen, das ihm unmöglich erschien, selbst wenn er in diesen drei Wochen so genügsam wie ein Hungermönch lebte. Er holte sein schwarzes Nokia-Handy aus seiner Jeansjackentasche und rief die Nummer seiner Mutter aus dem Speicher ab. Mutti wusste immer Rat – selbst in den ausweglosesten Situationen. Es dauerte mehrere Freizeichen, bis das Gespräch angenommen wurde, und dann hörte Kevin im Hintergrund das leise Brausen eines Automotors.
»Hallo?«
»Mutti, ich bin’s …«
»Kevin, mein Liebling!! Wie schön, dass du anrufst! Aber … ist das nicht zu gefährlich, was du da tust? Du weißt doch sicher, dass Handys während des Fluges verboten sind?«
»Ich rufe nicht aus dem Flieger an.«
»Sondern?«
»Ich bin hier im Terminal des Köln-Bonner Flughafens. Wir hatten einen Lokschaden, und ich … ich hab’ die Maschine nach Moskau verpasst!«
»O mein Gott! Und was jetzt?«
»Das frage ichdich!!!«
Mutti verstummte, so, als müsse sie ihre nächsten Worte genau überlegen, und Kevin vernahm ihren Atem in seinem Handy. Nach einem längeren Augenblick sagte sie: »Fahr zurück zum Kölner Hauptbahnhof, mein Schatz. Vati wird in Karlsruhe die Ausfahrt nehmen, und ich lasse dir bei der nächsten Post überWestern Union genug Geld überweisen, damit du dir im Reisezentrum eine Fahrkarte nach Luzern kaufen kannst. Es wird dir nichts anderes übrigbleiben, als die Ferien mit uns und deiner Schwester in der Schweiz zu verbringen.«
»Eine Fahrkarte nach Luzern ist sicher … sehr teuer …«
»Das lass mal unsere Sache sein. Leg jetzt auf. Ich rufe dich zu