Kapitel 1
Lilian Waterton war aufgeregt wie lange nicht mehr. Sie hörte ihr Herz klopfen, als der schrille Pfiff der Lokomotive die morgendliche Stille zerriss. Sie wusste: In diesem Zug saß Robin, ihr einziger Enkel, der das verwaiste elterliche Haus in Hyde Park, Vermont, verlassen hatte und nun auf Anordnung des Bezirksgerichts bei ihr in ihrem verschlafenen Nest in den New Jersey Highlands leben sollte. Nach dem tragischen Unfalltod seines Vaters und seiner Stiefmutter hatte dieses Gericht Mrs. Waterton das Sorgerecht für den Siebzehnjährigen übertragen. Sie freute sich auf seine Ankunft, und sie merkte, dass sie am ganzen Körper zu zittern anfing, als die große Stirnlampe der Diesellokomotive mit ihrer berühmten Bulldoggennase an diesem kälteklirrenden Herbstmorgen aus dem grauen Bodennebel wie aus einer Waschküche auftauchte.
Ich habe ihn mehr als zwölf Jahre nicht gesehen, dachte die berühmte Frau mit den wunderschönen, silbergrau-melierten Haaren bei sich. Er war noch im Kindergarten, erinnerte sie sich. Damals war ihr ehemaliger Schwiegersohn noch mit ihrer Tochter Elice verheiratet gewesen, aber es brauten sich schon tiefschwarze Wolken über ihrer Ehe zusammen. Mrs. Waterton wollte nicht darüber nachdenken – zumindest jetzt nicht. Das Herz brach ihr, wenn sie sich das Schicksal ihrer schönen, doch unglückseligen Tochter in Erinnerung rief.
Der Zug hielt, und es öffnete sich lediglich eine Tür. Unwillkürlich hielt Mrs. Waterton den Atem an. Ein einziger Passagier verließ den silbernen Wagen am Schluss des Zuges. Der Schaffner, ein Farbiger mit ergrautem Haar, verabschiedete sich von ihm, indem er seine blaue Dienstmütze vom Kopf hob.
Das ist er!, schoss es Lilian Waterton durch den Kopf. Das ist Robin! Mein Gott, was für ein Mannsbild er ist! dachte sie, und ihre Beine setzten sich automatisch in Bewegung. Mrs. Waterton trug schwarze Lackschuhe mit stark taillierten halben Bobine-Absätzen, die, als sie ihrem Enkelsohn entgegeneilte, einen rasch sich steigernden Rhythmus auf den Asphalt des menschenleeren Bahnsteiges trommelten. Einen mittelgroßen blauen Schalenkoffer in der Rechten haltend, blieb Robin am Ende des Zuges wie angewurzelt stehen.
»Robin!«, sprudelte es aus ihr heraus, und sie breitete ihre Arme aus. »Ich bin’s: deine Großmutter! Komm an mein Herz, mein Junge, und lass dich erst einmal drücken!«
»Omi!«, entwich es Robin.
Er stellte seinen Koffer auf die Erde, und nun warf auch er seine Arme auseinander und stürzte Mrs. Waterton entgegen. Großmutter und Enkelsohn trafen sich in der Mitte des Bahnsteiges. Lilian Waterton umarmte ihren großen Jungen ganz herzlich und überhäufte sein weiches, doch hübsches Gesicht mit schmatzenden Küssen. Trotz des dicken, pelzverbrämten Wintermantels, den sie trug, spürte Robin ihre großen, weichen Brüste, die sich an seinem Körper drängten, und das irritierte ihn für einen Augenblick. Ein eigenartiger Schauer rieselte seinen Rücken hinunter.
»Lass dich anschauen, Liebling!«, sagte Mrs. Waterton. »Mein Gott, wie blass du aussieht! Und wie mager du bist! Aber das wird sich sehr schnell ändern. Es wird Mrs. Swanson und deiner Omi schon gelingen, dich aufzupäppeln! Komm, nimm deinen Koffer. Ich bringe dich nach Hause!«
Mrs. Watertons Wagen wartete auf dem Bahnhofsvorplatz. Selbstverständlich fuhr sie standesgemäß – einen langgestreckten Bentley Arnage T in vornehmem, metallisch glänzendem Bordeauxrot. Sie war eine der erfolgreichsten und berühmtesten der zeitgenössischen Schriftstellerinnen Amerikas und konnte sich nicht nur eine solch noble Luxuskarosse leisten, sondern auch den passenden Chauffeur (und einen Gärtner, eine Köchin und ein Hausmädchen). Der grau uniformierte Chauffeur erwartete sie in steifer Haltung an der Fahrertür.
»Bradford …«, sagte Mrs. Waterton noch ganz aufgeregt, »Bradford, das ist mein Enkelsohn Robin, von dem ich Ihnen schon so oft erzählt habe. Robin, das ist Mr. O’Keeffe, mein Chauffeur. Du darfst Bradford zu ihm sagen. Er a