Erster Teil
Kapitel 1
Das Licht von Hunderten von Glühbirnen flammte in riesigen kristallenen Kronleuchtern und reflektierte sich in den Spiegeln des großen Saales. Lady Alicia, die Dame des Hauses, stand etwas abseits von den Partygästen, die den Landsitz der Wallingworths außerhalb von Amesbury mit anarchischem Leben füllten, und betrachtete wohlwollend die fröhliche Schar von Jugendlichen rund um die Tanzfläche. Oliver feierte seinen sechzehnten Geburtstag und schien die halbe Grafschaft zu seinem Fest eingeladen zu haben.
Doch deswegen war Alicia ihrem einzigen Enkelsohn nicht böse. Im Grunde ihres Herzens liebte die Gräfin das bunte Treiben fröhlicher Menschen, und die ehrwürdigen Mauern von Brighthall Castle rochen schon zu stark nach dem moschushaltigen Parfüm von alten, grauhaarigen Frauen, die sich Freitag abends zum Bridge und einem Gläschen Cherry trafen. Sie rochen nach Büchern in braunen Ledereinbänden, die niemand mehr las.
Alles war vom Feinsten an diesem sonnigen Sonntagspätnachmittag im Juli des Jahres 2007. Mrs. O’Leary, ihre Köchin, hatte ein köstliches kaltes Buffet auftragen lassen. Die Erdbeerbowle war eisgekühlt, und Miss Paula, das einzige Hausmädchen von Brighthall, hatte fast den ganzen Vormittag damit verbracht, den Saal mit Luftschlangen und Girlanden aus farbenprächtigen Papierblüten zu schmücken.
Alicia liebte ihren großen Jungen wie keinen anderen Mensch auf diesem Globus. Sie hatte sich fest vorgenommen, jeden Tag seiner Trimesterferien auszukosten, als wäre es der letzte ihres Lebens. »Oliver«, so vertraute sie dem letzten Kapitel ihrer Autobiographie an, »ist in seinem ganzen Leben niemals ein aufmüpfiger Junge gewesen. In einem Alter, in dem sich andere männliche Jugendliche Löcher für Ohrringe in die Ohrläppchen stechen lassen und untereinander zu wetteifern scheinen, wer sich mit Piercing und schrillen Tattoos am schlimmsten verunstalten kann, begriff er, wie vorteilhaft ein gepflegtes Äußeres, eine kultivierte Sprache und ein höfliches Auftreten gegenüber Älteren für den Werdegang eines jungen Mannes sein können. Schon mit Vierzehn beschloss er, seine Zukunft nicht dem Zufall zu überlassen. Er meldete sich bei einer renommierten Tanzschule außerhalb Londons an und belegte schon drei Monate später bei den südenglischen Amateurmeisterschaften für lateinamerikanische Tänze in Brighton gemeinsam mit seiner Partnerin den dritten Platz in ihrer Altersgruppe. Oliver liebte schon immer Tiere und trat energisch für ein Verbot der traditionellen Parforcejagd auf Füchse ein. Desgleichen entwickelte er ein Interesse an Polo, an Kricket, an Tennis und am Schach. Im Oktober desselben Jahres nahm er an seinem ersten internationalen Schachturnier teil und musste sich erst im Halbfinale dem späteren Champion, einem dreiundachtzig Jahre alten Russen aus St. Petersburg, geschlagen geben.« Wie seine vierundsechzigjährige Großmutter gehörte Oliver der englischen Landaristokratie an.
Sein Vater, Brigadegeneral Hamilton Wallingworth IV, war am 5. April des Jahres 2003 im Zweiten Irakkrieg beim Sturm auf die Stadt Basra gefallen, als Oliver zwölf Jahre alt gewesen war. Seit diesem Tag besaß er das Recht, seinen Briefkopf mit dem TitelEarl of Wallingworth zu schmücken. Doch Oliver wollte sein Erbe erst antreten, wenn er volljährig war. So lange ruhte auch seine Mitgliedschaft im Britischen Oberhaus – dem sogenanntenHouse of Lords, dem seine Familie seit dem Bürgerkrieg im Jahre 1649 ununterbrochen angehörte.
Die Geschichte der Wallingworths ließ sich bis zu Wilhelm dem Eroberer zurückverfolgen. Ihr Familienwappen, drei weiße Lilien auf rotem Grund, war in den Teppich von