Kapitel 1
Dr. Rüegli hat mir absolute Ruhe verordnet, doch ich weiß haargenau, dass ich bis zum Ende meiner Tage keine Ruhe mehr finden werde. Meine Uhr ist abgelaufen. In meinem Leben hat ein Ereignis stattgefunden, das so ungeheuerlich, so unvorstellbar ist, dass sich selbst die Tastatur meines Laptops dagegen zu wehren scheint, diese Angelegenheit meiner Textverarbeitung anzuvertrauen. Die Affäre ereignete sich nicht gestern oder vorgestern und auch nicht im vergangenen Jahr. Sie liegt mehr als dreißig Jahre zurück. Die allermeisten Beteiligten an diesem Drama haben inzwischen das Zeitliche gesegnet oder sind auf dem allerbesten Wege, es zu tun, und auch ich sieche dahin.
Mein Name ist Timothy D. Winterfield. Meine Freunde, wenn ich denn welche besitze, nennen mich Tim. Ich sitze an den Rollstuhl gefesselt und in eine sandfarbene Flanelldecke gehüllt auf der Hochterrasse einer weltberühmten Privatklinik auf dem Utenberg Luzerns und genieße das strahlend schöne Wetter und das grandiose Panorama, das mir die Dächer der Stadt, die noch berühmtere Kapellbrücke über die Reuss, die Alpen und der Vierwaldstätter See von hier oben bieten. Es ist gerade »Lozärner Mäss«, ein Volksfest wie das Oktoberfest in München, nur sehr, sehr viel überschaubarer. Eine Dampforgel pfeift, der süßliche Duft von gebrannten Mandeln umschmeichelt meine Nase. Auf dem gegenüberliegenden Ufer des Luzerner Sees dreht sich ein Riesenrad. Menschen mit Zuckerwatte und kandierten Äpfeln in den Händen schlendern gemütlich an den vielen Los- und Süßigkeitenbuden entlang. Auf dem Bahnhofsvorplatz wirbelt ein Kettenkarussell Kreise um die eigene Achse. Das Kreischen der Kinder hallt verzerrt bis zu mir herauf.
Dr. Rüegli, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Radioimmuntherapie, ist offen zu mir: Bei unserem letzten Gespräch hat er mir noch drei oder vier Monate gegeben, im allerbesten Fall ein halbes Jahr – eine Frist, die wohl kaum für mich ausreichen wird, um mit Gott und der Welt ins Reine zu kommen.
Schwester Isabeau betritt die Terrasse und kredenzt mir auf einem silbernen Serviertablett eine Tasse Kamaya-Tee. Mit ihrer Anmut und ihrer freundlichen Erscheinung ist sie die Zierde des ganzen Hauses und hebt sich von den anderen Krankenpflegerinnen ab wie ein Schwan unter lauter Fröschen. Sie trägt weiße Gesundheitsschuhe und besitzt diese schlanken, sich zur Nasenwurzel hin leicht verdickenden Augenbrauen, die schöne Frauen auszeichnen.
Wie es mir an diesem Nachmittag gehe, will sie in ihrer gewohnt liebevollen Art von mir wissen. Die Chemotherapie hat mich meiner letzten Haare beraubt, ich bin zum Skelett abgemagert, quäle mich unablässig mit diesem eigenartigen Gefühl herum, im Zeitlupentempo von einem Wolkenkratzer in die Tiefe zu stürzen, Dr. Rüegli hat neue Metastasen an mir diagnostiziert, und Schwester Isabeau erkundet sich in ihrem perfekten, fast schon amerikanisch angehauchten Englisch nach meinem werten Wohlbefinden!
Doch ich bin ihr nicht wirklich böse. Sie meint es ja gut mit mir. Die Schweizer im Allgemeinen und Schwester Isabeau im Besonderen sind eben liebenswerte Leute, und die kleinbusige, dunkelblonde Krankenschwester kümmert sich rührend um mich.
Wie sehr sie mich an meine Mutter erinnert! Es schmerzt, so schön ist sie. Und wenn ich, wie