Kapitel 1
Mein Patient ist in diesem Fall ein sehr gut aussehender Mann im besten Alter. Seine hohe Stirn und seine lebhaften, sehr ausdrucksvollen Augen zeugen von Intelligenz. Nennen wir ihn einfach Walter. Was er mir erzählt, ist die Geschichte einer selbstlosen Mutterliebe.
Aber hören wir ihn uns selbst an:
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Meine Geschichte beginnt, als ich schon fast siebzehn Jahre alt war. Mein Vater ist unerwartet früh gestorben, ich war erst zwölf, als meine Mutter Witwe und ich Halbwaise wurde. Materielle Not mussten wir nicht leiden, denn Mom bekam eine Witwenrente, und außerdem hatte sie ein bisschen Geld von ihren Großeltern geerbt.
Meine Mutter hat nicht wieder geheiratet, sie unternahm auch keine Schritte in diese Richtung; wie ich heute weiß, hatte sie dafür mehrere Gründe. Einerseits hatte sie meinen Vater sehr geliebt, sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich noch einmal in einen anderen Mann verlieben könnte. Sie brauchte zumindest einen großen zeitlichen Abstand. Außerdem wollte sie mir keinen Stiefvater aufzwingen; sie wusste, dass ich sehr an meinem Vater gehangen hatte und dass es mir bestimmt sehr große Probleme verursacht hätte, zu sehen, wie ein fremder Mann seine Stelle einnehmen würde. Mom wollte nicht, dass ein fremder Mann auf meine Erziehung Einfluss nahm, und sie befürchtete, ich würde auf einen neuen Vater mit Eifersucht reagieren.
Wahrscheinlich lebten wir aus diesen Gründen sehr zurückgezogen. Verwandte hatten wir keine in erreichbarer Nähe, einen Freundeskreis ebenfalls nicht. Mein Vater hatte nur für seine Familie gelebt, und die wenigen Freunde, die er gehabt hatte, waren in den überwiegenden Fällen seine Kollegen gewesen. Er hat es fertig gebracht, seine kleine Familie, meine Mutter und mich, von der ziemlich rauhen Außenwelt fast völlig abzuschirmen.
Ich hatte zwar einige Freunde, das heißt Schulkameraden, aber diese Kameradschaften gingen nicht über den schulischen Bereich hinaus, abgesehen von meinen Mitspielern in der Baseballmannschaft. Ich war jemand, den man als Einzelgänger hätte bezeichnen können, meine Welt bestand aus unserer schönen, gemütlichen Wohnung und meiner Mutter, die ich über alles liebte. Sie liebte mich ebenso sehr, und zurückblickend weiß ich, dass ich für sie der einzige Grund war weiterzuleben.
Wir beide lebten in völliger Harmonie. Wir waren so sehr aufeinander abgestimmt, dass wir in auffallend vielen Fällen und Gelegenheiten auch die Gedanken des jeweils anderen erraten konnten. Wir sprachen viel miteinander, und seitdem wir alleine lebten, gab es keinen einzigen Streit und keine Meinungsverschiedenheit, die geeignet gewesen wäre, unser so grundehrliches Verhältnis zu erschüttern. Wenn wir tatsächlich einmal nicht einer Meinung waren, wurde der strittige Punkt mit Sachargumenten ausdiskutiert, bis wir einen Kompromiss gefunden hatten, mit dem wir beide leben konnten.
Ich las viel. Keine triviale Literatur, obwohl ich mich gern von spannenden Geschichten unterhalten ließ, sondern nur klassische Werke wie Charles Dickens und populärwissenschaftliche Bücher über den Flugzeug- und Schiffsbau. Ich wurde nicht sehr puritanisch erzogen und auch nicht sehr religiös, aber dadurch, dass ich mich in unserem Zuhause sehr wohl fühlte und keinen Kontakt zu anderen Mädchen und Jungs suchte, befand ich mich auch nicht in einer Gesellschaft, in der mich Gleichaltrige mit ihren pubertären Sexualphantasien hätten verderben können. Ich war absolut naiv, was den Sex betraf; in