Kapitel 1
Die Reise war lange im voraus geplant, denn es sollte die Reise ihres Lebens werden. Meine Eltern waren einfache, bescheidene Leute und hatten sich niemals Urlaub gegönnt. Das kleine Zigaretten- und Lottogeschäft in unserer rheinischen Kleinstadt warf, obgleich es an einer viel befahrenen Straße lag, einfach zuwenig Profit ab, als dass sie es für eine längere Zeit hätten schließen können. Es sollte die Reise zu ihrer Silbernen Hochzeit werden – eine Kreuzfahrt durch die Ostsee mit Stationen in Gdingen, Libau, Tallinn, St. Petersburg, Helsinki, Turku, den Åland-Inseln, Stockholm und Kopenhagen (und dann zurück nach Travemünde). Mutter und Vater waren, wie ich zu Beginn schon erwähnte, einfache Leute, und sie hatten lange für diese Kreuzfahrt gespart.
Doch wie das Leben so spielt, unmittelbar vor Antritt der Reise brach sich Vater bei einem Fußballspiel seiner Thekenmannschaft den linken Fuß, und meine Mutter stand vor der Wahl, die Reise entweder mit einem hohen finanziellen Verlust zu stornieren oder alleine anzutreten.
»Ich werde wohl hierbleiben«, sagte meine Mutter schweren Herzens, denn sie hatte sich sehr auf die Fahrt gefreut.
»Kommt überhaupt nicht in die Tüte!«, wandte mein Vater energisch ein. »Du fährst, Elfriede! Das ist die erste große Reise, die du in deinem Leben machst, und ich möchte, dass du ein bisschen Spaß hast.«
»Ich fahre aber nicht alleine!«, widersprach meine Mutter.
Vater blickte uns der Reihe nach an – das heißt: mich, meine um ein Jahr ältere, rothaarige Schwester Melanie und meine Mutter. »Es ist für zwei Dahlkes bezahlt worden, also sollen auch zwei Dahlkes fahren«, entschied er. »Tommy ist schon ein großer Junge und kann dich beschützen. Ich bleibe mit Mellie zu Hause, um das Geschäft zu führen.«
»Ich will mit!«, beschwerte sich Mellie, die kleine, sommersprossige Egozentrikerin.
»Nein«, sagte Vater. »Ich will nicht, dass zwei Frauen alleine fahren. Jemand muss auf Mutti achtgeben, und ich finde, dass Tommy dafür besser geeignet ist als du.«
»Das ist ungerecht!«, ereiferte sie sich in diesem weinerlichen Tonfall, für den ich sie als Kind stets gehasst habe. »Immer wird Tommy bevorzugt, nur weil er der Jüngste ist!«
»Das ist nicht wahr, Liebling«, entgegnete mein Vater. »Weißt du, was? Wenn Mutti und Tommy wieder zurück sind und mein Fuß heil ist, dann fahren wir beide für eine Woche nach London. Das hast du dir doch schon immer gewünscht, oder?«
»Das würdest du tun, Vati?«, fragte sie und schnupfte geräuschvoll in ihr Tempo-Taschentuch.
»Aber ja, Kind«, antwortete er. »Gleich morgen früh gehe – oder besser:humpele ich ins Reisebüro und buche für uns«, erklärte mein Vater und tippte mit dem Spazierstock gegen seinen Gipsfuß, um den ihm Mutter einen ihrer Nylonstrümpfe gesteckt hatte. »Und ich buche uns Zimmer in einem Fünf-Sterne-Luxushotel!«, fügte er noch hinzu.
Damit war Melanie besänftigt. Sie hatte sich immer schon gewünscht, einmal nach Swinging London zu fahren, so wie Mutter sich von ganzem Herzen wünschte, diese Ostseereise zu machen. Meine Schwester fiel Vater um den Hals und küsste sein Gesicht trunken vor Glück ab.
In diesem Augenblick stand es also fest, dass ich meine Mutter begleiten würde. Ich war siebzehn, und ich besuchte die letzte Klasse unseres Gymnasiums, aber es waren gerade Sommerferien, und das traf sich prima.
Am nächsten Morgen packten Mutter und ich unsere Koffer. Melanie, die gerade ihren Führerschein gemacht hatte, brachte uns in Vatis blauem Ford Astra zum Bahnhof, und da