Kapitel 1
Ich war gerade zwanzig Jahre alt geworden, als ich innerhalb von nur drei Monaten meine beiden Eltern verlor. Ich hatte keine Familie, keine Verwandten, ich hatte niemanden mehr. Ich stand alleine in der Welt und war einsam wie der Klöppel in der Glocke.
Die große Wohnung musste ich aufgeben. Die Möbel und die ganze Wohnungseinrichtung habe ich verkauft und dafür soviel Geld bekommen, dass, wenn ich mich sehr eingeschränkt und jeden Pfennig dreimal umgedreht hätte, bevor ich ihn ausgab, ich davon ein halbes Jahr hätte leben können. Ich bezog ein kleines Zimmer in Untermiete bei Frau Knetel, einer etwa vierzigjährigen Witwe. Es war ein sehr einfaches Zimmer, aber mir reichte es.
Schlimm waren für mich zwei Sachen. Die eine war, dass ich, der bis dahin in der Obhut einer guten Familie lebte, in der ich in jeder Hinsicht versorgt wurde, jetzt auf mich allein gestellt war. Mein Essen durfte ich in der Küche der Vermieterin zubereiten. Sie war eigentlich sehr nett zu mir; sie hatte einen gleichaltrigen Sohn, der aber in einer weit entfernten Stadt wohnte und von dem sie nur selten eine Nachricht bekam. Meine Wäsche konnte ich von unserer früheren Haushälterin waschen lassen, die auch für meine Eltern diese Dienste verrichtet hatte. So war zumindest dieses Problem einigermaßen gelöst.
Schlimmer war die finanzielle Seite. Ich musste mir eine Arbeit suchen, bevor ich meine winzigen Reserven verbraucht hatte. Aber wie? Ich hatte zwar das Abitur, aber davon konnte man nichts abbeißen, besonders in Zeiten, in denen auch manche Akademiker arbeitslos waren. Einen richtigen Beruf habe ich nie erlernt. Ich versuchte es mit einer Kleinanzeige, die aber keinen Erfolg brachte. Ich besuchte auch verschiedene Firmen und bot meine Arbeitskraft an, leider auch ohne Erfolg, obwohl ich jede einigermaßen erträgliche Arbeit angenommen hätte.
Ich war schon der Verzweiflung nahe, als ich auf der Straße zufällig Herrn Piukovich traf. Er war mit meinen Eltern gut bekannt, manchmal war er bei uns auch zum Abendessen. Er klopfte mir auf die Schulter und fragte, wie es mir ginge. Ich schilderte ihm meine Situation.
Er machte eine ernste Miene und sagte nur: »Hm, hm!« und schüttelte den Kopf. »Schlechte Zeiten erleben wir, mein Lieber. Schlechte Zeiten!« Dann klopfte er mir wieder auf die Schulter (es war anscheinend seine Lieblingsbeschäftigung) und sagte: »Nur nicht den Kopf hängen lassen. Es wird schon irgendwie gehen! Viel Glück!« Er war schon einige Schritte gegangen, da drehte er sich plötzlich um. »Komm morgen bei mir in der Fabrik vorbei. Vielleicht ergibt sich etwas. Also, bis dann!«
Immerhin ein Hoffnungsschimmer, und ich erzählte es gleich Frau Knetel, die sagte, dass mich Herr Piukovich bestimmt einstellen wird. Die gute Seele freute sich für mich.
Die Glasfabrik Piukovich war stadtbekannt. Es war eigentlich keine Fabrik, nur eine Glaserei, aber eine große, die Großfirmen, Bankhäuser und Versicherungsgesellschaften mit Fenstern ausstattete. Herr Piukovich war ein steinreicher Mann, aber ohne die Arroganz der Neureichen und Emporkömmlinge. Er war jovial und auch von seinen Arbeitern geliebt oder zumindest geschätzt, weil er menschlich war und für jeden ein gutes Wort übrig hatte.
Wenn ich ›menschlich‹ sage, dann muss das so verstanden werden, dass er mit allen menschlichen Eigenschaften ausgestattet war; auch mit solchen, die in der sogenannten feineren Gesellschaft nur naserümpfend erwähnt werden. So war ihm nichts fremd, was Freude macht oder mit Genuss verbunde