Das Sanatorium
»Ich heiße Tom Heckner«, stellte sich mein neuer Patient vor. »Vielleicht ist Ihnen mein Name nicht ganz unbekannt; Geoffrey Heckner, der Gründer des Columbus Psychological Instituts, war mein Vater. Ich selbst habe Jura studiert, bin aber kein Rechtsanwalt geworden, sondern bin heute der Direktor einer Großbank. Obwohl ich gewohnt bin, vor einem größerem Publikum zu sprechen und mich auch in der Chefetage der Bank meinen Vorstellungen entsprechend verständlich zu machen, fällt mir im Moment das Sprechen schwer. Es ist nicht leicht, vor einer Dame über Probleme zu reden, wie ich sie habe.«
»Mr. Heckner«, sagte ich, »Sie sind sicherlich gewohnt, und Sie verlangen auch, dass alles, worüber Sie entscheiden müssen, klar formuliert auf dem Papier vor Ihnen liegt. Anders kann man in Ihrer Position nicht handeln. Und Sie interessiert auch nicht, was genau hinter den Zahlen und Namen steht, die vor Ihnen liegen. Das Einzige, was Sie interessiert, ist die Summe, die am Ende des Berichtes steht. Und auch wenn Sie wissen, dass sich hinter diesen Zahlen Menschenschicksale verbergen, sind Sie gewöhnt, das nicht auf Sie wirken zu lassen, denn Sie müssen vor allem eines sein: objektiv.
Nun, schauen Sie, bei den Ärzten ist es ähnlich. Sie wissen, wenn sie mit ihrem Skalpell in das Fleisch eines Menschen schneiden, dass das sehr weh tun kann. Sie dürfen darauf keine Rücksicht nehmen, denn wenn der operierende Arzt bei jedem Schmerz, den er dem Patienten notgedrungen zumuten muss, zu weinen anfinge, könnte er eine Operation nie zu Ende führen.
Teilweise ist es auch in meinem Beruf so. Ich lasse die Probleme des Patienten auf mich nicht einwirken, ich muss nüchtern und objektiv denken und handeln, um ihm helfen zu können. Allerdings muss mich interessieren, was sich hinter den Daten und Fakten, die ich von meinen Patienten erzählt bekomme, befindet, denn gerade diese verborgenen Dinge geben mir Hinweise darauf, wo sich die Probleme der betreffenden Personen befinden und wie man sie beseitigen oder zumindest lindern kann.
Übrigens: Ich will Ihnen zwar in Bezug auf Ihren Beruf keine Ratschläge geben, dazu verstehe ich von Ihrem Metier zu wenig, aber mein Gefühl sagt mir, dass es für Sie vielleicht hilfreich sein könnte, wenn Sie etwas tiefer hinter die Ihnen gelieferten Daten und Zahlen schauen würden, denn dadurch könnten Sie eventuell verhindern, dass die Summe am Ende des Blattes von Jahr zu Jahr niedriger wird.«
Zuerst dachte ich, dass mir Mr. Heckner diese Bemerkung verübeln würde, aber nein, im Gegenteil. Er sagte: »Mrs. Blake, es hat sich für mich schon gelohnt, dass ich zu Ihnen gekommen bin. Ich werde Ihrem Rat folgen.«
Und da er sah, dass in meinen vier Wänden Klartext gesprochen wurde, begann er mit seiner Schilderung:
Mrs. Blake, ich hatte eine glückliche Kindheit. Völlig abgesehen von dem Wohlstand, in dem unsere Familie lebte, herrschte in unserem Hause eine sonnige Atmosphäre. Als einziges Kind wurde ich zwar nicht so verwöhnt, wie es meistens in wohlhabenden Familien der Fall ist, aber ich wurde sehr liebevoll und auch sehr vernünftig erzogen. Mein Vater, ein Wissenschaftler, war nicht das, was man sich als Prototyp des Intellektuellen vorstellt; er war weder ein knochentrockener Gelehrter noch lebte er in einem Wolkenkuckucksheim oder Elfenbeinturm. Nein, er war ein sehr fröhlicher, ja, lustiger Mensch. Er hatte ein großes Herz und war – wie ich dem Geflüster meiner Mutter mit ihren Freundinnen entnehmen konnte – auch ein guter und sehr romantischer Liebhaber. Meine Eltern haben sich sehr geliebt, und sie haben sich – davon bin ich überzeugt – auch bis zum letzten Tag körperlich geliebt, bis mei