: Clarice Lispector
: Benjamin Moser
: Aber es wird regnen
: Penguin Verlag
: 9783641262877
: 1
: CHF 13.30
:
: Erzählende Literatur
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Endlich wiederentdeckt: die Virginia Woolf Südamerikas
Platz 1 der SWR Bestenliste, eine beeindruckende Anzahl hymnischer Rezensionen und eine Nominierung der Übersetzung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020: der erste Band von Clarice Lispectors Erzählungen ('Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau') begeisterte die Presse ebenso wie Leserinnen und Leser. Zum 100. Geburtstag der Autorin liegt nun der zweite und letzte Band vor. Auch er zeigt die brasilianische Ausnahmeautorin wieder als einzigartige Chronistin des weiblichen Lebens und seiner Abgründe: Eine junge Frau entdeckt nach vielen Demütigungen das ekstatische Glück des Lesens. Ein Hausmädchen versinkt in traurigen Gedanken, um gestärkt in den Alltag zurückzukehren. Eine Beobachterin taucht in fremde Menschen ein und wird zu deren Fleisch. In 44 Geschichten, entstanden auf dem Höhepunkt ihrer literarischen Karriere und für diese Ausgabe von Luis Ruby neu übersetzt, paaren sich widersprüchlichste Gefühle und kühne Bilder mit philosophischer Erkenntnis. Lispector macht uns staunen - nicht zuletzt über die Kompliziertheit des Lebens.

Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

AUF DER SUCHE NACH EINER WÜRDE


Frau Jorge B. Xavier hätte nicht zu sagen gewusst, wie sie da reingekommen war. Durch einen Haupteingang jedenfalls nicht. Sie hatte das Gefühl, vage verträumt durch eine Art enge Öffnung inmitten von Schutt gegangen zu sein, auf einer Baustelle, als hätte sie sich seitwärts durch ein Loch gezwängt, das nur für sie gemacht war. Und ehe sie sich’s versah, war sie schon drin.

Und ehe sie sich’s versah, bemerkte sie, dass sie schon ganz weit drin war. Endlos durchquerte sie die unterirdischen Gänge des Maracanã-Stadions, wenigstens kamen sie ihr vor wie enge Höhlen, die auf geschlossene Säle zuführten, und wenn sich die Säle dann öffneten, war da nur ein Fenster zum Stadion hinaus. Das Maracanã war um diese Stunde glühend verlassen, es flimmerte in der extremen Sonne, der ungewöhnlichen Hitze an diesem Tag mitten im Winter.

Da folgte die Dame einem düsteren Korridor. Der führte sie auf einen zweiten, noch düstereren. Sie hatte den Eindruck, dass die Decken in den unterirdischen Gängen niedrig waren.

Und da führte sie dieser Korridor auf einen weiteren und dieser nochmals auf einen weiteren.

Sie ging den verlassenen Korridor entlang. Und stieß auf eine weitere Ecke. Die sie auf noch einen Korridor führte, der an einer weiteren Ecke auslief.

So bog sie automatisch in Korridore ein, die stets auf weitere Korridore hinausgingen. Wo mochte der Saal für die Eröffnungsveranstaltung sein? Davor würde sie ja die Leute treffen, mit denen sie verabredet war. Vielleicht hatte der Vortrag sogar schon begonnen. Sie würde ihn verpassen, sie, die stets bemüht war, keinKulturereignis zu versäumen, weil sie dadurch innerlich jung blieb, äußerlich sah ihr nämlich niemand an, dass sie fast siebzig war, alle schätzten sie auf ungefähr siebenundfünfzig.

Aber jetzt, verloren in den dunklen inneren Windungen des Maracanã, schlurfte die Dame längst mit den schweren Füßen einer alten Frau.

Da traf sie in einem Korridor auf einen Mann, der unvermittelt auftauchte, und fragte ihn nach dem Vortrag. Davon wisse er nichts, sagte der Mann. Doch er erkundigte sich bei einem zweiten Mann, der ebenso unverhofft an der Biegung des Korridors auftauchte.

Der zweite Mann erklärte ihr, er habe auf der rechten Tribüne, mitten im Stadion unter freiem Himmel, »zwei Damen und einen Herrn gesehen, eine in Rot«. Frau Xavier bezweifelte, dass es sich bei diesen Leuten um die Gruppe handelte, die sie vor der Veranstaltung treffen sollte, und offen gestanden, hatte sie inzwischen auch aus dem Blick verloren, warum sie überhaupt rastlos durch diese Korridore lief. Jedenfalls folgte sie dem Mann ins Stadion, wo sie geblendet stehen blieb: ein hohler Raum aus weit aufgerissenem Licht und offener Stummheit, das Stadion nackt und ausgeweidet, es gab dort weder Ball noch Spiel. Und vor allem keine Menge. Allenfalls eine Menge, die aus der Leere ihrer absoluten Abwesenheit bestand.

Waren die zwei Damen und der Herr schon durch irgendeinen Korridor verschwunden?

Da sagte der Mann mit einem Nachdruck, der übertrieben wirkte: »Ich suche jetzt für Sie, und ich finde diese Leute ganz bestimmt, die können sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.«

Und in der Tat bekamen die beiden sie von ferne zu Gesicht. Doch eine Sekunde später verschwanden sie erneut. Es war wie ein kindliches Spiel, bei dem sich unterdrücktes Gelächter über Frau Jorge B. Xavier lustig machte.

Da trat sie mit dem Mann in weitere Korridore. Auf einmal verschwand auch dieser Mann an einer Ecke.

Die alte Dame hatte den Vortr