Kapitel eins
August 2003
Der Sinn des Lebens
Es war August, kurz vorm Ende der Sommerferien in unserem Dorf Kodscho. Mein Vater und meine älteren Brüder und Schwestern hatten alle frei. Die Vierzig Tage im Sommer, die wirçilê havînê nennen und die vom vierundzwanzigsten Juni bis zum zweiten August andauern, waren vorbei. Während dieser Zeit können die Tagestemperaturen im Irak über fünfzig Grad Celsius erreichen. Danach wird es allmählich kühler.
An jenem Morgen war es draußen noch dunkel, als meine Schwestern Hadil und Majida aufwachten, sich die Haare lockten und hochsteckten und ihre guten Kleider anzogen, die sie mithilfe unsererdake, unserer Großmutter, tags zuvor gewaschen und ausgebessert hatten. Meine Schwestern fuhren mit unserem Vater Hassan in einem verrosteten Pick-up, den er sich von seinem Bruder geliehen hatte, auf den Markt.
Es war 2003. Die Amerikaner waren erst seit ein paar Monaten in unserem Land, und der ehemalige irakische Präsident, der Diktator Saddam Hussein, war untergetaucht. Wir Jesiden waren freier, als wir es seit Generationen gewesen waren. Unter Saddam hatte es keine Parlamentswahlen gegeben. Er und seine Baath-Partei hatten einfach Kandidaten, die ihnen genehm waren, auf wichtige Posten berufen. Und die gingen meist an Sunniten wie Saddam und nur selten an schiitische Muslime oder Mitglieder irgendeiner anderen Minderheit wie den Jesiden. Jetzt bewegte sich unser Land auf ein demokratisches System zu und die Menschen wählten ihre Oberhäupter selbst. Mein Vater Hassan war der hiesige Kandidat der Demokratischen Partei Kurdistans.
Aber an diesem Tag, als er sich für den Markt vorbereitete, war er Hassan der Bauer.
Ich beobachtete, wie er den Pritschenwagen mit Kisten voller Auberginen, grünen Paprika, Tomaten, Zwiebeln und Zucchini belud, die wir auf unseren nahe gelegenen Feldern angebaut hatten. Hassan verkaufte unser Obst und Gemüse in dem etwa zwanzig Kilometer entfernten Sindschar, das wir Jesiden Shingal nennen. Kodscho mit seinen 1785 Einwohnern war ein ausschließlich jesidisches Dorf. In Sindschar hingegen war die Bevölkerung eine Mischung aus Jesiden, Kurden und Arabern. Das jesidische Volk lebt seit Tausenden von Jahren im Nordwesten des Irak; seine Präsenz reicht weit zurück bis zu den einstmals dort ansässigen alten Zivilisationen wie der der Sumerer. Auch Christen und Juden lebten in unserer Region, die jedoch unter Saddam Hussein zunehmend arabischer wurde. Saddams Armee war in viele jesidische Dörfer einmarschiert, hatte die Bewohner gewaltsam vertrieben und Araber, sein eigenes Volk, dort angesiedelt.
Hadil und Majida hüpften in den Pick-up und schlossen die Beifahrertür. Mein Herz explodierte. Ich wollte unbedingt mitkommen, denn sie würden in Sindschar nicht einfach nur auf den Markt gehen. Da Hadil jetzt alt genug für die Schule war, fuhren sie auch in die Stadt, um ihrejinsiya, ihre Staatsangehörigkeitsurkunde, abzuholen. Die zehnjährige Majida ging bereits in die Schule. In Kodscho gab es damals nur eine Grundschule. Viele jesidische Familien im Irak schickten ihre Kinder gar nicht in die Schule, weil dort nur islamische Geschichte und Religion gelehrt wurde und der Unterricht