1. Kapitel
Natürlich kann man auf Süßigkeiten ausrutschen, war Lilas erster Gedanke, als sie von Frau Nipperts Unfall erfuhr. In allen Farben malte sie sich aus, wie Frau Nippert auf halbflüssiger Weingummimasse das Gleichgewicht verloren haben oder auf ausgestreutem Zucker ausgeglitten sein könnte, denn schließlich arbeiteten sie gemeinsam in einer Süßwarenfabrik. Doch in Wirklichkeit hatte sich etwas ganz anderes, deutlich weniger Spektakuläres ereignet. Denn während Lila im Sekretariat des Juniorchefs darauf gewartet hatte, die Testergebnisse der letzten Schokoladenchargen abzugeben, rutschte Frau Nippert mit ihren einhundertdreiundvierzig Kilogramm auf einem schnöden Aufkleber mit Glitzerverzierung aus, der aus unerfindlichen Gründen auf dem Boden des Süßigkeiten-Testlabors gelegen hatte. Die Folgen davon waren ein gebrochener Knöchel und ein verstauchter Ellenbogen, ein Notruf, ein Bandscheibenvorfall bei einem der beiden Rettungsassistenten, die Frau Nippert hochheben wollten, ein zweiter Rettungswageneinsatz, eine gebrochene Schraube an dem Röntgentisch, der nur bis zu einhundertfünfundzwanzig Kilogramm zugelassen war, und schließlich die Verlegung von Frau Nippert ins Klinikum nach Hamburg. Natürlich gehörte auch das Personalchaos, das daraufhin ausbrach, zu den Folgen des tragischen Sturzes, schließlich waren Lila und Frau Nippert die einzigen beiden Mitarbeiterinnen im Süßigkeiten-Labor, und Lila konnte die Arbeit beim besten Willen nicht alleine stemmen. Daher war sie zunächst auch ganz froh, als sie Unterstützung bekam, das änderte sich jedoch rasch, als sie Frau Ellenhagen kennenlernte, denn die war das genaue Gegenteil von Frau Nippert: spindeldürr, humorlos, unsympathisch. Vom ersten Augenblick an fühlte sich Lila kritisch von ihr beäugt, und Frau Ellenhagen ließ keine Gelegenheit ungenutzt, um sie spüren zu lassen, dass sie sich überlegen fühlte. »Ich bin Marketing-Expertin und Spezialistin für Firmenentwicklung, Sie hingegen sind nur eine einfache Angestellte der Abteilung für Produktentwicklung und -testung«, liebte sie auszuführen.
Lila bogen sich die Zehennägel hoch, wenn sie nur an diese eine Bemerkung dachte. In Frau Ellenhagens Anwesenheit wurde Lila, die fast immer gute Laune hatte und über jede Menge Humor verfügte, still und stiller. Sie ertappte sich regelmäßig dabei, wie sie komplett abschaltete, wenn Frau Ellenhagen zu sprechen ansetzte, und dann überhaupt nichts mehr mitbekam. Stumm hoffte sie in diesen Momenten auf eine schnelle Heilung von Frau Nipperts Bein und eine noch schnellere Rückkehr in die Normalität. Doch leider schien sich – trotz der vielen Schokolade und der Gute-Besserung-Karten, die Lila fast täglich ins Krankenhaus schickte – Frau Nipperts Knöchel Zeit mit der Genesung lassen zu wollen, und Lila blieb nichts anderes übrig, als sich mit der unangenehmen Situation zu arrangieren. Gerade als sie das Gefühl hatte, dass es ihr so leidlich gelang, bat Frau Ellenhagen sie mit eisiger Miene zum Gespräch.
»Frau Wolkenschön-Schmidt, wie stellen Sie sich Ihre weitere Arbeit in diesem Unternehmen vor?«, begann sie, nachdem sie sich einander gegenüber an den runden weißen Tisch in der Ecke des Süßigkeiten-Labors gesetzt hatten.
Lila, die eine gewöhnliche Freitagsbesprechung erwartet hatte, zuckte zurück. Warum klang Frau Ellenhagen so streng, und vor allem, warum wollte sie mit ihr ausgerechnet über ihre Zukunft sprechen?
Dass Frau Ellenhagen auch noch ihren Namen vermasselt hatte, fiel ihr erst im zweiten Moment auf, schließlich war sie an Schwierigkeiten in dieser Hinsicht gewöhnt. Warum ihre Mutter sie mit zweitem Vornamen ausgerechnet Wolkenschön genannt hatte, konnte sie sich genauso wenig erklären wie die Tatsache, warum die Dame vom Amt diese exzentrische Wahl erlaubt hatte. Vielleicht wollte ihre Mutter damit ihren wenig klangvollen Nachnamen »Schmi