: Johannes Anyuru
: Sie werden in den Tränen ihrer Mütter ertrinken Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641220297
: 1
: CHF 10.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 336
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Winternacht in Göteborg. Ein Anschlag auf einen Comicshop. Unter den Attentätern: ein junges Mädchen, die das Ganze filmen und später ins Internet stellen soll. Mitten im Angriff kommen ihr Zweifel. Auf einmal ist sie sich sicher, dass falsch ist, was sie tut. Zwei Jahre später, inzwischen untergebracht in der Psychiatrie, bittet sie um ein Treffen mit einem Schriftsteller, dessen Bücher sie gelesen hat. Ihm überreicht sie ein Manuskript, in dem sie eine düstere Zukunftsvision zeichnet. Was aber will sie ihm sagen? Was ist wirklich passiert? Der Schriftsteller macht sich auf die Suche nach Antworten, spricht mit Zeugen und Opfern des Attentats. Es ist die Suche nach Wahrheit, aber auch die Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob man als Muslim noch in Schweden leben kann.

Dieses Buch hallt lange nach, weil es ein Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart ist, der sich jeglicher Vereinfachung entzieht, der simplen Parolen die Komplexität des Menschen gegenüberstellt. Ein wichtiges Buch. Eindringlich und poetisch. Hochaktuell und originell. Traurig und tröstlich zugleich.

Johannes Anyuru, geboren 1979, gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Schwedens. Er debütierte 2003 mit einer viel beachteten und hoch gerühmten Gedichtsammlung (Det är bara gudarna som är nya/Nur die Götter sind neu). Für seinen Debütroman 'Ein Sturm wehte vom Paradiese her', eine autobiografisch geprägte Annäherung an das Schicksal seines Vaters, bekam er zahlreiche Preise, er wurde für den wichtigsten Literaturpreis des Landes, den Augustpreis, nominiert sowie für den Preis des Nordischen Rates. Ausgezeichnet wurde er mit den Literaturpreisen vonSvenska Dagbladet undAftonbladet,er stand auf Platz 1 der Kritikerliste vonDagensNyheter

Es ist ihre erste Erinnerung: der Schnee, der in willkürlichen Schleiern auf die Krankenhaustrakte, den Parkplatz und die Pappeln, der auf die Bremsschwellen herabwirbelte. Davor: eigentlich nichts.


Sie sitzt still, mit geschlossenen Augen, während Amin mehrmals den Namen wiederholt, den er ihr gegeben hat. Nour. Erst als sie in seiner Stimme einen Anflug von Hysterie vernimmt, öffnet sie die Augen.

»Erinnerst du dich an etwas Neues?« Sein Gesicht ist ausgemergelt, der Mund angespannt, er sitzt neben ihr in Hamads weißem Opel, auf der Rückbank, die Schaumgummikrümel verliert, die an ihren Kleidern hängenbleiben.

Sie schüttelt den Kopf.

Hamad sagt etwas vom Fahrersitz aus, ermahnt sie zur Eile, und Amin befeuchtet seine Lippen und tippt mit zitternden Händen auf dem Mobiltelefon herum, das mit Klebeband an den Metallrohren ihres Gürtels befestigt ist. Sie bleibt vollkommen regungslos sitzen. Hinter der Glasscheibe taumeln vor der gelben Backsteinwand einzelne Schneeflocken herab. Wenn sie den vierziffrigen Code auf den Tasten eingibt, werden die Metallrohre explodieren und etwa so viele Nägel und Schrotkörner hinausschleudern, wie in zwei gewölbten Händen Platz finden, und die Druckwelle wird im Umkreis von fünf oder vielleicht auch zehn Metern die Knochen von Menschen brechen und ihre inneren Organe zerstören. Gleiches gilt, wenn jemand den Code in einerSMS an das Telefon sendet.

Sie steigen aus dem Auto. Hamad hat in einer Seitenstraße geparkt, wo sie von einem Müllcontainer verdeckt werden. Er hievt die große, schwarze Sporttasche aus dem Kofferraum. Die Kälte brennt auf ihren Wangen und Händen; um sich aufzuwärmen tritt sie ein wenig auf der Stelle.

Gemeinsam biegen sie auf die Kungsgatan und teilen sich im Samstagsgewimmel auf. Als sie sich nach ein paar Schritten umdreht, verharrt Amin mit den Händen in den Taschen vor einem Schaufenster und tut so, als schaute er sich Anzüge an.

Sie fühlt, dass sie miteinander verflochten sind.

Sie wünscht sich ein anderes Leben für sie beide.

Es ist der siebzehnte Februar, eine gute Stunde vor dem Terroranschlag auf den Comicladen Hondos.

Einmal ist sie kurz davor, auf die Straße zu treten und von einer Straßenbahn angefahren zu werden – eine Frau hält sie zurück, indem sie nach ihrem Mantel greift –, das Scheppern der Straßenbahn ist schrill und hohl, und sie bleibt im Schneematsch stehen, mit suchendem Blick in dem leichten Schneefall, der im dunkler werdenden Nachmittag hängt.

Wieder versucht sie, sich zu erinnern, wer sie ist, woher sie kommt, findet aber nur zu dem Zimmer im Krankenhaus zurück, als sie aufstand und sich auf den Infusionsständer gestützt an das Fenster stellte. Sie erinnert sich an die pfeifende Dünung der Pulsschläge hinter ihren Schläfen und die Kühle des Bodens unter den Fußsohlen.

Sie hat gelesen, dass der Schneeschauer, der an jenem Sommerabend über dem Krankenhausgelände aufzog, eine Folge der Umweltzerstörung war, oder von Wettermanipulationen des Militärs, oder auch, dass es gar kein Schnee war, was da fiel, sondern etwas, das aus einem Chemiewerk ausgetreten war.

Die Frau, die sie davon abgehalten hat, auf die Straße zu treten, berührt ihren Arm und sagt etwas, was sie nicht versteht, ihre Stimme ist flach und fern, und als sie nichts erwidert, geht die Frau davon. Noch eine Straßenbahn fährt vorbei, um sie herum überqueren Menschen den Zebrastreifen.

Immerhin glaubt sie zu wissen, dass sie hier herkommt. Aus Göteborg. Und ihre Mutter ist tot. Irgendwie gestorben. Wurde überfahren. Nein. Sie erinnert sich nicht. Ballt die Hände zu Fäusten, öffnet sie.

Eine einzige Handlung kann die Welt wecken.

Sie setzt sich erneut in Bewegung, verliert sich im Strom der Käufer und Jugendlichen in aufgeplusterten Winterjacken und der Paare mit Kinderwagen.

Vor den aufgestellten Türen des Comicladens flackert unruhig ein Festlicht in der Dämmerung, vor einem handgeschriebenen Schild: