Hast du eigentlich immer recht?
Sonja geht seit Kurzem in den Kindergarten und gibt sich mit ihrem täglich neu hinzugewonnenen Wissen in letzter Zeit gerne ein wenig altklug. Trotzdem will es ihr partout nicht gelingen, dass sie immer recht hat, so wie Helen, ihre Mama. Jetzt gerade stemmt sie ihre Hände in die Hüften und schleudert ihrer Mutter die Frage ins Gesicht: »Hast du eigentlich immer recht?«
Der Anlass dafür ist Sonjas rote Wolljacke. Sonja hatte einen kleinen Fleck auf deren Vorderseite entdeckt und deshalb eigenhändig die Jacke in die Waschmaschine zu der anderen Wäsche dazugegeben. Weiße Kochwäsche, das Bettzeug von Helen und Herbert, das jetzt in feinem Rosé schimmert. Sonjas geliebte weiche Jacke, die Helen gerade vor dem Mädchen in die Höhe hält, ist dagegen zusammengeschnurrt auf Puppengröße.
Keine Frage, Sonja ist wütend. Es ist ja auch wirklich gemein. Sie versucht, alles richtig zu machen, ganz so wie die Großen, und dann misslingt wieder irgendetwas. Natürlich weiß Sonja, dass ihr ein Fehler unterlaufen ist. Gerade deshalb fühlt sie sich mies. Und dennoch passiert etwas auf den ersten Blick Paradoxes: Sie ist sauer auf ihre Mutter.
Was sich hier in Sonjas Psyche abspielt, ist ein Vorgang, den wir bei Erwachsenen ganz genauso beobachten können. Also auch bei uns selbst. Wir wachen morgens auf, fühlen uns angesichts der feuchtfröhlichen Party gestern Abend furchtbar, und wer ist schuld? Immer derjenige, der gerade greifbar ist, die Frau neben uns, die Kinder, der Hund oder wer sonst eben verfügbar ist. Der Grund für dieses psychische Phänomen, das Verschiebung genannt wird, ist simpel. Gefühle entstehen in unserem Gehirn als blitzschnelle Reaktion auf Wahrnehmungen und Reize (vgl. Kapitel »Grundlagen für eine wertebezogene Erziehung«, Abschnitt »Unser angeborenes Empfinden für Gerechtigkeit«). Erst langsam und deshalb an zweiter Stelle bastelt sich der Verstand eine Erklärung für die Ursache eines Gefühls zusammen, die richtig sein kann, aber keineswegs richtig sein muss. Wenn nun unbewusste Faktoren hinzukommen – wie hier ein schlechtes Gewissen über das Ausufern der gestrigen Party –, sucht sich die Psyche gerne den bequemsten Weg. Schließlich ist es leichter, den Grund für den Ärger einem anderen in die Schuhe zu schieben, als vor der eigenen Haustür zu kehren.
Folglich ist es für Sonjas Psyche leichter, wütend auf ihre Mutter zu sein, als sich eingestehen zu müssen, dass ihr ein dummer und ärgerlicher Fehler unterlaufen ist, der außerdem noch ihre schöne rote Wolljacke ruiniert hat.
Antwort: Es ist ganz normal, dass ich als Erwachsener viele Dinge weiß, die du noch nicht kennst.
Weil Gefühle, wenn sie heftig sind, oft das Denken gänzlich beherrschen, würde die Antwort von Helen an Sonja wahrscheinlich untergehen, wenn sie nicht im gleichen Atemzug auch das Gefühl mit anspricht, das gerade bei ihrer Tochter den Ton angibt. Eine vollständige, passende Antwort von Helen auf die Frage von Sonja könnte demnach lauten: »Ich verstehe, dass dich das wütend macht. Glaube mir, ich bin auch nicht begeistert über die zartrosa Bettwäsche. Bitte frage das nächste Mal nach, bevor du etwas in die Waschmaschine stopfst. Und ja, es ist ganz normal, dass ich als Erwachsene viele Dinge weiß, die du noch nicht kennst. Für irgendetwas