Von der Kindergartentante zur Konfliktmanagerin
Picknick, natürlich in Vor-Corona-Zeiten, im Kindergarten »Kunterbunt«. Es ist warm, im Außenbereich ist auf einem der großen Tische ein schön anzuschauendes Buffet mit vielen leckeren Speisen aufgebaut. Von diesem Buffet holen sich die Kinder kleine Portionen Obst und Salat, Frikadellen oder auch Wackelpudding. Als jeder versorgt ist, setzen sich alle in einen Kreis und beginnen zu essen.
Alle? Nein, da ist ja noch Lukas. Lukas hat keine Lust auf Essen oder im Kreis sitzen, dafür hat er auf etwas anderes Lust. Lukas nämlich hat Lust, allen anderen den Spaß am Picknick zu verderben. Urplötzlich rennt er um alle Kinder und Erzieher herum, klaubt immer wieder Sand vom Boden auf und beschmeißt in einem irren Tempo die gut gefüllten Teller damit. Sand auf den Frikadellen, Sand im Salat, Sand in Mayonnaise und Ketchup. Sand, Sand, überall. Entsetzte Gesichter der anderen Kinder, einige weinen, kein Essen blieb verschont, sodass 24 Kinder nun mit langen Gesichtern vor ihren sandigen Tellern sitzen.
Die Erzieher, die gerade noch das Buffet auffüllten, konnten nur noch verhindern, dass Lukas sich auch diesem noch widmet. Für die Teller der Kinder war es zu spät, da alles in einer Riesengeschwindigkeit ablief.
Natürlich war dieser Vorfall nicht der erste seiner Art, sondern lediglich ein kleiner Höhepunkt in der Geschichte von Lukas, die sich in ähnlicher Form über die kompletten drei Kindergartenjahre erstreckt. Alltagsregeln waren für den Jungen in all den Jahren nur Schall und Rauch. Der betreuende Kinderarzt bedachte das Kind von Beginn an mit der Bezeichnung »verhaltensoriginell«, und die häusliche Situation war für die alleinerziehende Mutter schwierig.
Natürlich bemühten sich die Erzieher, Lukas gerecht zu werden, mussten dabei aber immer auch die Bedürfnisse der anderen Kinder in der Gruppe im Blick behalten. Zum Glück hatte der Junge nach einiger Zeit engeren Kontakt zu einer der erfahrenen Erzieher bekommen, bezeichnenderweise diejenige, derjenige, der als konsequentester Einrichtung galt. Er war der Einzige, der zu Lukas eine verlässliche Bindung aufbauen konnte, durch die er Authentizität und Orientierung erfuhr. Wann immer es möglich war, suchte er seine Nähe, nahm seine Hand und testete an ihm seine Grenzen aus. Besonders auffällig war dabei der Unterschied zu Lukas’ Mutter. Während diese immer wieder sein Verhalten entschuldigte, übergroßes Verständnis zeigte und Schuld grundsätzlich bei anderen suchte, spiegelte sein Bezugserzieher dem Jungen stets klar und deutlich sein Handeln und damit auch sein Fehlverhalten.
Kurz vor dem Sandsturm beim Picknick fiel dieser Erzieher mit einer längeren Krankheit aus. Damit war die Bahn frei für Lukas. Kein Tag verging ohne Vorfall, mal zerstörte er das gesamte Frühstücksbuffet, mal drückte er den Kopf eines anderen Kindes so fest in den Sand und setzte sich anschließend auf den Kopf, dass dieses Kind fast keine Luft mehr bekam. Auf diese Vorfälle angesprochen, fand seine Mutter Entschuldigung um Entschuldigung. Mal war ihr Sohn geärgert worden, mal hatte er schlecht geschlafen, und außerdem fände er einen der Erzieher blöd, weil er nicht nett zu ihm sei. Selbstreflexion und ein Blick auf den angerichteten Schaden? Fehlanzeige.