Kapitel II
Ja, die Unsterblichkeit der Familie Cornelius.
Zumindest die relative, denn wie Sie wissen und sich vielleicht erinnern: Gegen weltliche Waffen sind und waren wir nicht gefeit. Ohne Kopf lebt es sich schlecht, und ich als einstige Scharfrichterin, die Jahrhunderte leben durfte, weiß es nun wirklich am besten.
Nur vor der Sanduhr des Gevatters blieben wir verschont.
Die Begebenheit, von der ich nun erzähle, trug sich zeitlich nach den Geschehnissen zu, die ich Ihnen letztes Mal schilderte. Sollten Sie zum ersten Mal davon hören, seien Sie unbesorgt. Sie werden alles verstehen und begreifen.
Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Es gibt die Gestalten und Wesen, die gerne als Aberglaube und Fabeln und Märchen abgetan werden. Ich werde Ihnen davon berichten, und ich halte Sie nicht davon ab, die moderne Technik und alte Bücher zur eigenen Nachforschung zu nutzen.
Ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen seltsam erscheint, von Verhör und Folter, Pranger, Stockhieben und verschiedensten Hinrichtungsformen samt weitergehender Strafen am Leichnam des Verurteilten zu erfahren. Es waren andere Zeiten. Aber die Todesstrafe ist so alt wie die menschliche Zivilisation, auch wenn sie mittlerweile in etwas mehr als140Staaten nicht mehr angewandt wird. Mehr als fünfzig haben sie noch. Wie viele Menschen heute noch in der Gegenwart des Staates gerichtet werden, ist schwer zu sagen. Manche Länder haben keine offizielle Statistik. Ich würde von einigen Tausend pro Jahr ausgehen.
Da ich vorhin von Goethe sprach: In Wilhelm Meisters theatralischer Sendunglässt er sagen:
»Wie viel Tausende werden unwiderstehlich nach einer Exekution, die sie verabscheuen, hingerissen, wie ängstet sich die Brust der Menge für den Übeltäter, und wie viele würden unbefriedigt nach Hause gehen, wenn er begnadigt würde und ihm der Kopf sitzen bliebe? Das sprudelnde Blut, das den bleichen Nacken des Schuldigen färbt, sprengt die Einbildungskraft der Zuschauer mit unauslöschlichen Flecken.«
So war es damals.
Später erzähle ich Ihnen noch ein bisschen mehr über die Anfänge dieses alten Berufs, den ich mit Freude und Überzeugung ausführte. Wie es das Amt verlangt.
Jetzt aber führe ich Sie in die Vergangenheit, ins frühe17. Jahrhundert, in eine Stadt in Deutschland, deren Namen ich Ihnen nach wie vor nicht nenne. Es soll niemand wegen der Geschichten aus der Vergangenheit in Verruf geraten. In dieser Stadt gingen mein Sohn Jacob und ich dem Handwerk der Scharfrichterei nach, während Geneve sich auf die Behandlung von Wunden verlegte, welche die Befragung unter der Folter regelmäßig nach sich zog.
Und natürlich setzte meine Tochter ihre Hilfsbereitschaft nicht nur in den Kerkern ein, sondern auch für jene, die sonst ihre heilenden Hände benötigten. Sowohl Menschen, die heimlich oder offen zu ihr kamen, als auch sonstige Wesenheiten …
»Und wer brachte dir diese Wunde bei?« Geneve spreizte die Ränder der vierten Fleischwunde ihrer Besucherin mit einem selbst ersonnenen chirurgischen Instrument, das sie aus zwei verbogenen Forken gebaut hatte, und ließ die Arretierung mit einer Fingerbewegung einrasten. Damit war es ihr möglich, mit beiden Händen die Verletzungen an der hinteren Schulter zu sondieren und sie zu behandeln. Die weniger schlimmen Wunden am Arm und Rücken hatte sie bereits versorgt.
Die junge Frau in dem schlichten weißen Kleid, über dem sie eine Schnürung trug, jammerte leise und wandte den Blick ab. Sie hatte das Oberteil zur Behandlung herabgestreift, ihre Haut war bis auf die Wunden weiß und makellos, die Brüste klein und fest. Mehr als vierzehn, fünfzehn konnte sie nicht sein, und viel Zeit unter der Sonne verbrachte sie nicht. Sie war keine Bäuerin. »Ich sah ihn nicht.«
Vorgestellt hatte sich die Bittstellerin mit dem rötlich kastanienfarbenen Haar nicht. Aber dem orientalischen Schmuck und dem Geruch von billigem Ginster- und Nadelräucherwerk nach vermutete Geneve, jemanden aus dem Vergnügungshaus vor sich zu haben. Bezahlt hatte sie bereits. Mit einer kleinen Goldmünze. Eine weitere Ungewöhnl