Dieses Kapitel zeigt Ihnen, wie lang anhaltende Stresszustände die Ökonomie fast nach einem feststehenden Programm zerbröseln. Wir werden von vernünftigen Menschen zu solchen, die alle Ethik vergessen und sich sehr kurzfristig (bis zur Blindheit oder Verblendung) um den eigenen »Erfolg« kümmern und alle anderen ebenfalls mit in den Strudel reißen. Das ist ein Dauerthema des Buches: Der rationale Homo oeconomicus ist allenfalls ein Kunstgedanke für halbwegs gute Zeiten, in denen Rationalität sogar kurzfristig nützt. In schlechten Zeiten regiert die Kopflosigkeit. Kennt die Wirtschaftstheorie Tunnelblick-Menschen? In Lehrbüchern nicht, aber um mich herum wuseln sie gerade.
Unter Stress sind wir ungeduldig und eilig. Wir leiden unwissentlich unter einem Tunnelblick nur für das, was jetzt gerade unbedingt getan werden muss. Kein Gedanke mehr an ein Morgen! In dieser Stimmung nehmen wir die Welt nur noch schwarz-weiß wahr und sehen keine Grautöne mehr geschweige denn Farben.
Unter Stress teilt sich alles:
→ in Freund und Feind.
→ in wichtig und unwichtig.
→ in ja und nein.
→ zum Schluss in reich und arm.
Merken Sie es heute schon um uns herum? Das Mittlere verschwindet. Die mittlere Qualität in den Läden siecht dahin: Armani oder Aldi bleiben. Die mittleren, normalen Menschen braucht man nicht mehr so recht. Premium-Leistungsträger werden gesucht und viele, viele Aushilfskräfte je nach Bedarf.
Unter dem Dauerdruck von Stress und hoher Arbeitsbelastung kommt es zu aggressivem Verdrängungswettbewerb. Er ist wie Krieg. Es gibt wenige Sieger und viele Verlierer. Unter Stress sagen wir: »Ich hatte es so sehr eilig – aber keiner wollte mich vorlassen! Alle sind so rücksichtslos. Das merke ich mir, ich will jetzt auch rücksichtslos sein. Ich kann es mir offenbar nicht leisten, nicht rücksichtslos zu sein.« Das ist schon wie der Beginn von Kriegshandlungen. Sie führen zu gegenseitigen zermürbenden Verlusten. Diese Teufelsspirale ist Thema dieses Kapitels. Sie führt zum Niedergang bzw. zur Bildung eines großen Prekariats.
Ich beginne in diesem Abschnitt ganz harmlos mit ein paar Beispielen aus dem Alltag. Die sind noch »neckisch«. Aber Sie drücken schon das Typische aus, wie ich es Ihnen im wirtschaftlichen Leben darstellen möchte. Fangen wir an:
Sonntag. Sie wollen duschen, es ist schon spät. Die Sonne scheint. Der Duschhebel steht noch in der optimalen Stellung vom Samstag – genau die richtige Temperatur. Sie schalten an, das Wasser rauscht. Es ist noch zu kalt, da räumen Sie noch ein bisschen, finden sich im Spiegel attraktiv, vergessen ein bisschen die Zeit – ach ja! Duschen! Es ist schon wohlig warm – optimal. Sie duschen und summen ein Lied.
Montag. Monday, Monday! Sie wollen duschen, es ist schon spät. Der Duschhebel steht noch vom Sonntag optimal! Das Wasser ist aber noch zu kalt, als Sie blitzschnell und mürrisch in die Duschkabine springen. Schnell! Mist, zu kalt! Sie reißen den Hebel auf Heiß. Es wird augenblicklich wärmer. Dann sehr heiß. Mist, die Haut schmerzt. Sie pegeln hinunter. Mist! Zu kalt. Es ist zum Verzweifeln!
Ich will sagen: Wie Sie duschen, hängt von Ihrem Instinkt, Ihrem gefühlten Stress oder Ihrem Gelassenheitsgrad ab. Am Sonntag sind Sie eher zu sorglos, trödeln ein bisschen und verschwenden Wasser. Am Montag soll alles sehr schnell gehen, und Sie brechen die Sache übers Knie. Das machen Sie jeden Montag Ihres Lebens. Haben Sie schon einmal nachgedacht, was »optimal« wäre? Sie können es versuchen, aber das schnelle Einstellen auf eine gewünschte Temperatur ist ein auch mathematisch sehr anspruchsvolles Problem. Es ist so irre schwer, dass es sich nicht lohnt, viel Geist daran zu verschwenden. Das tun die Mathematiker aber sehr wohl, wenn sie zum Beispiel Hochöfen auf die richtige Temperatur anheizen. Dazu kocht man das Erz einen Tick zu schnell an, so dass die Temperatur ein bisschen höher schießt als gewünscht. Das spart Zeit – und dann w