1. Kapitel
Vicente Neiva stöhnte schmerzvoll auf. Das Spiegelbild verschwamm vor seinen Augen. Das Brummen des elektrischen Rasierapparats erschien ihm plötzlich wie ein Dröhnen, in das sich höhnisch lästernde Stimmen mischten.
»Rosenkreuzer! Okkultistischer Freimaurer! Erkenne die Macht der Macumba und beuge dich! Auf die Knie, Vicente Neiva! Neiva, du reiches Schwein! Schwein, Schwein, SCHWEIN! Bald kommt die Macumba dich holen, Neiva-Schwein!«
Mit einem Aufschrei drosch der schlanke, grauhaarige Mann die Faust in den Badezimmerspiegel, dass er klirrend zerbarst. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper. Er zitterte. Da war es wieder, dieses Gefühl des Unbehagens und der Übelkeit, schlimmer als je zuvor.
Etwas ging mit ihm vor, etwas Unheimliches, Schreckliches, das spürte Vicente Neiva mit allen Fasern seines Körpers. Die unheimlichen Stimmen waren verhallt, doch die Angst blieb.
Neiva wusste, dass er zu seinem Nachfolger musste. Ihm musste er das Geheimnis der Loge der okkultistischen Freimaurer von Rio de Janeiro anvertrauen in der Zeit, die ihm noch blieb.
Schon hörte er die unheimlichen Stimmen wieder.
»Beeil dich, Schwein! Lauf, damit du noch zurechtkommst, Schwein Vicente Neiva!«
Er wankte aus dem Badezimmer. Den ganzen Tag hatte er im Bett gelegen, er, der sonst so aktive und vitale Mann; er war unfähig, etwas zu unternehmen oder sich um seine Geschäfte zu kümmern. Seine dreißig Jahre jüngere Frau Luisa schaute ihm besorgt entgegen.
»Vicente, was ist mit dir? Wie siehst du aus? Deine Augen sind ganz blutunterlaufen, dein Gesicht verzerrt. Was quält dich, Lieber?«
»SCHWEIN!« Die Stimme war wie ein Fanfarenstoß.
Neiva zitterte. Mit flackerndem Blick wandte er sich an seine Frau. »Hast du das gehört? Jemand hat mich beschimpft, mich ein Schwein genannt.«
Unsicher schaute sie ihn an. »Mir käme nie in den Sinn, etwas Derartiges zu dir zu sagen. Soll ich Dr. Tomas anrufen?«
»Dr. Tomas, Dr. Tomas, Dr. Tomas! Wie kann mir dieser alte Quacksalber, dem die Haare aus der Nase wachsen, helfen?« Vicente Neiva erkannte seine Stimme kaum wieder, rau und heiser klang sie, ganz anders als sonst. »Ich – muss weg. Wo ist Rodolfo – dieser faule Taugenichts von Fahrer?«
»Ich habe ihn weggeschickt. Du selber hast gesagt, du hättest heute keine Verwendung mehr für ihn. Er wird sich in der Firma nützlich machen.«
Neiva griff zum Telefon. Das Grauen schnürte ihm die Kehle zu. Er spürte, dass etwas auf ihn zukam, ein entsetzliches Schicksal. Er befand sich in der Penthousewohnung seines eigenen Hochhauses an der Ecke Avenida Atlantica – Rua Hilario de Gouveia. Durch die großen Panoramafenster flutete Licht herein. Man hatte einen herrlichen Ausblick auf den Strand von Copacabana mit seinen Hotelpalästen und auf den Atlantik.