Kapitel 1
Sie hörte ihn schon durch die geschlossene Tür nach ihr rufen, als sie am frühen Dienstagnachmittag von einem ihrer geliebten Strandspaziergänge zurückkehrte. Für Anfang September waren die Temperaturen noch sehr mild und sie hatte die Stunden am Meer wie immer genossen.
»Grüß Gott! Grüüüß Gott!«
Sie streifte die sandigen Gummistiefel von den Füßen und ließ sie auf der Fußmatte vor ihrer Wohnungstür stehen. Dann betrat sie ihr gemütliches Zuhause im Dachgeschoss eines alten, aber gepflegten kleinen Reihenhäuschens im Wehrbergsweg im Cuxhavener Stadtteil Duhnen. Was für ein Glück, dass sie hier vor vier Monaten eine schöne neue Bleibe für sich und Jeffrey bekommen hatte, vom Balkon aus konnte sie sogar das Meer oder, je nach Tidenkalender, das Wattenmeer sehen. Hier hatte sie ihre Wunden geleckt und war zu sich selbst zurückgekehrt.
Hinter ihr lag ein nervenaufreibendes Trennungsjahr, das sie zuerst in einem schäbigen möblierten Zimmer zur Untermiete und eine kurze Zeit auch in ihrem ehemaligen Kinderzimmer ihres Elternhauses verbracht und das seinen Höhepunkt vor ein paar Tagen in einem kurzen, aber anstrengenden Termin vor dem Scheidungsrichter gefunden hatte. Lars hatte dabei mit Beleidigungen nur so um sich geworfen und kein Hehl daraus gemacht, dass er nur noch Hass für sie empfand. Zuvor hatte er die Scheidung mit allen Mitteln zu verhindern versucht. Zuerst mit Charmeoffensiven, Geschenken und Schmeicheleien. Dann irgendwann mit Ansagen, die sie einschüchtern und die Angst vor einer Zukunft als geschiedene Frau in ihr wecken sollten. Er drohte, sie in ganz Bremen zur Persona non grata zu machen, so dass sie dort garantiert nirgends einen Job finden würde. Und er behauptete, dass alle ihre gemeinsamen Freunde ohnehin auf seiner Seite stünden, und prophezeite ihr, dass sie ein sehr einsames Leben erwarte. Aber alle seine düsteren Vorhersagen hatten ihren Entschluss, sich von ihm zu trennen, nicht ins Wanken gebracht. Zu oft hatte er sie belogen und betrogen und damit ihr Selbstwertgefühl Stück für Stück in sich zusammenfallen lassen. Das wollte sie nicht länger ertragen. Und jetzt war sie einunddreißig Jahre und geschieden. Irgendwie hatte sie sich ihr Leben ganz anders vorgestellt.
»Grüüüß Gott!«, ertönte schon wieder der schrille Ruf aus dem Raum am Ende des Flurs, das sie als Arbeitszimmer nutzte. Als freiberufliche Übersetzerin