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Maxim Billers schriftstellerisches Werk ist eine großangelegte Suche nach Wahrheit. Seine Literatur ist der umfassende Versuch, das Unvereinbare zu vereinbaren, Schmerz in Erkenntnis zu verwandeln sowie bequeme Konventionen aufzuspüren und zu sprengen. Dabei übernehmen Billers Essays weit mehr als eine Nebenrolle. Sie führen nicht nur vor, dass die Gattung im Kern eine zutiefst literarische ist, sondern auch, wie die Literatur in Sachen Wahrheitsfindung der Wissenschaft oder dem Journalismus voraus sein kann. Dieser Band versammelt eine repräsentative Auswahl an Texten aus den letzten drei Jahrzehnten, in denen sich Biller insbesondere mit der deutschen, jüdischen und amerikanischen Literatur sowie mit deutscher Gesellschaft, Politik und Geschichte auseinandersetzt. In ihrer zeitlosen Gültigkeit, stilistischen Brillanz und argumentativen Wucht prägten und prägen sie die Gattung in der deutschsprachigen Literatur maßgeblich. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden. Maxim Biller wurde 1960 in Prag geboren, seit 1970 lebt er in Deutschland. Seine journalistischen und essayistischen Texte erschienen ab den späten 1980er Jahren u. a. in Tempo, Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Konkret und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Er ist Kolumnist für Die Zeit. Seine Erzählungen und Romane wurden insgesamt in sechzehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen sein Memoir 'Der gebrauchte Jude' (2009), die Novelle 'Im Kopf von Bruno Schulz' (2013), der Roman 'Biografie' (2016), den die Süddeutsche Zeitung sein ?Opus Magnum? nannte, und 'Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten' (2020). Sein Bestseller 'Sechs Koffer' (2018) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis.
[28] Ohne Zweifel linksAls ich mit zehn Jahren aus Prag nach Deutschland kam, wusste ich leider schon, wie gefährlich das Leben sein konnte. Die Bolschewiken hatten in der Sowjetunion meinen jüdischenGroßvater umgebracht, sie hatten in Prag meinen Onkel für Jahre ins Gefängnis gesteckt, sie hatten meinemVater verboten, zu studieren, und dann waren sie auch noch im Sommer1968 mit ihren Soldaten, Politoffizieren und Panzerdivisionen in die Tschechoslowakei einmarschiert, weil sie vonDubček ,Havel und den dekadenten Filmen des Prager Barrandov-Studios genug hatten.
Ja, ich war wirklich sehr froh, in Deutschland zu sein, auf der anderen, der sicheren Seite derStalin -Breschnew -Linie, hier würde mir bestimmt so schnell nichts passieren. Nur eine Sache wunderte mich und ging mir bald auf die Nerven: Fast keiner von denen, die ich hier in der Schule und in der Universität getroffen habe, hatte eine Ahnung davon, wie gefährlich das Leben sein konnte, wie dünn die Zivilisations- und Demokratieschicht war, auf der sich die Bewohner vonUS -Europa seit1945 bewegten, wie schnell aus Freiheit Diktatur und aus freien Menschen Häftlinge und Tote werden konnten, wenn es ein charismatischer Massensadist und angeblicher Menschheitsretter unbedingt wollte.
Und schon gar nicht wussten meine vonBrandt ,Schmidt undKohl verwöhnten Mitschüler und Kommilitonen, dass in der zweiten, besseren Hälfte des20 . Jahrhunderts der Kommunismus und alles, was sie dafür hielten, der größte Feind ihres süßen und freien Westlebens war. Im Gegenteil, sie liebten ihn, in allen seinen vulgären, oberflächlichen Varianten und Variationen, auf einmal gab es in Deutschland mehr K-Gruppen als Brotsorten, und die kommende Revolution sollte der ganz reale Horrorfilm sein, von dem sie sich maximalen[29] Pubertäts-Thrill versprachen. Kommunismus – egal ob als müder, moskautreuer Bolschewismus-Aufguss, egal ob als schmutzigemaoistische Kulturrevolutions-Fantasie oder als jesuitischeMG -Sophistik – war vor allem aber die Superpower-Ideologie, die sie fürs Erwachsenwerden brauchten. Mit ungelesenenMarx -Bänden im Bücherregal, mit simplifizierenden Nieder-mit-dem-Bösen-Dogmen in den Köpfen und wirren Alles-wird-gut-Idealen in den Herzen fühlten sie sich überhaupt erst stark genug, nein zu sagen, wenn ihrewilhelminisch strengenSPD -,CDU - und Ex-NSDAP -Eltern von ihnen verlangten, dass sie endlich mal wieder zum Friseur gingen, mit achtzehn eine der damals üblichen drei Staatsparteien wählten und den12 -Uhr-Sonntagsbraten ganz aufaßen. Sie waren links, damit sie nicht rechts sein mussten, und weil so viele andere aus ihrer Generation auch links waren, konnten sie sich gemeinsam vor den reaktionären Erwachsenen etwas weniger fürchten.
Wie seltsam, naiv und unreif die Westjugend war, wurde mi