2. Nachbarschaften
Lesen heißt auf eine Reise gehen.
Alberto Manguel
Wer liest, will weg. Will heraus aus den Büros mit den vertrockneten Zimmerpflanzen. In Maurice Sendaks (1928–2012) KinderbuchHiggelti Piggelti Pop! oder Es muss im Leben mehr als alles geben ist es eine solche Zimmerpflanze, die nicht verstehen kann, warum der Hund Jennie seine Sachen packt und in die weite Welt ziehen will:
»Du hast alles«, sagte die Topfpflanze, die zum selben Fenster hinaussah.
Jennie knabberte an einem Blatt.
»Du hast zwei Fenster«, sagte die Pflanze. »Ich habe nur eines.«
Jennie seufzte und biss ein weiteres Blatt ab. Die Pflanze fuhr fort:
»Zwei Kissen, zwei Schüsseln, einen roten Wollpullover, Augentropfen, Ohrentropfen, zwei verschiedene Fläschchen mit Pillen und ein Thermometer. Vor allem aber liebt er dich.«
»Das ist wahr«, sagte Jennie und kaute noch mehr Blätter.
»Du hast alles«, wiederholte die Pflanze.
Jennie nickte nur, die Schnauze voller Blätter.
»Warum gehst du dann fort?«
»Weil ich unzufrieden bin«, sagte Jennie und biss den Stengel mit der Blüte ab. »Ich wünsche mir etwas, was ich nicht habe. Es muss im Leben noch mehr als alles geben!«
Die Pflanze sagte nichts mehr.
Es war ihr kein Blatt geblieben, mit dem sie etwas hätte sagen können.
Literatur, könnte man sagen, erweitert die alltägliche Liste mit den Kissen und Wollpullovern, weil so eine Liste niemals ›alles‹ enthalten kann, und sie lässt uns mit dem von zu Hause aufbrechenden Hund Jennie Erfahrungen machen, die man vom Kissen aus hinter dem verschlossenen Fenster nicht machen kann. Zwar besteht das Beunruhigende all der Geschichten, die vom Aufbrechen und Reisen erzählen, auch darin, dass eben nur unser imaginärer Stellvertreter im Text aufbricht, während wir beim Lesen weiterhin hinter dem Fenster auf unserem gemütlichen Kissen sitzen. Dafür aber kann man, wenn man durch die Fenster der Bücher schaut, unendlich viel mehr sehen als der Hund in Sendaks Erzählung durch seine beiden Fenster zu Hause.
Die Liste unseres Erfahrungsraums wird durch das Lesen immer länger und länger: Zu den Kissen, Wollpullovern und Thermometern gesellen sich riesige Pferde aus Holz, Drachen und fliegende Teppiche; Fährmänner tauchen auf, die uns mitnehmen in das Reich der Toten; der Tod selbst tritt auf in unterschiedlichster Gestalt, aber auch schöne, lebendige Frauen, wegen derer man Kriege führt, und Kriegerinnen, die ihre Geliebten zerreißen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und wer nicht nach Troja oder Bagdad, nach Mittelerde oder Westeros reisen will, der kann auch 20 000 Meilen unter den Meeren, mit einer Rakete zum Mond oder mit einer speziellen Maschine durch die Zeiten reisen.
Wie die Texte lustvoll fabulieren und voller Hingabe die komplexesten Welten entwerfen, so ist es auch für die Leser*innen eine große Lust, sich in diesen Welten zu bewegen und gemeinsam mit Odysseus, Harry Potter oder Arya Stark gefährliche Abenteuer zu bestehen. Auch das gehört zu jener Freiheitserfahrung, von der bereits die Rede war, und die Übergänge zwischen der Lust an genauer Beobachtung und hochkomplexemworldbuilding auf der einen Seite und der Lust am Beobachten der Beobachtung auf der anderen Seite, der Jean Paul’sche Blickwechsel also »von der Sache […] gegen ihr Zeichen hin«, sind oft fließender, als man denkt. Schon früh jedenfalls haben sich gerade die Abenteuer- und Reisegeschichten nicht mords-, sondernmetamäßig über ihre eigenen Stürme und Gewitter, ihre Retardierungen und Rettungen lustig gemacht.
Zunächst einmal muss die Welt aber überh