: Paolo Rumiz
: Der unendliche Faden Reise zu den Benediktinern, den Erbauern Europas
: Folio Verlag
: 9783990371053
: 1
: CHF 14.80
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 236
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Rumiz sucht nach den Wurzeln eines offenen, barmherzigen und in die Zukunft gerichteten Europa - und findet sie in den Klöstern der Benediktiner. Der Wanderer Paolo Rumiz spürt den Jüngern des heiligen Benedikt von Nursia, dem Schutzpatron Europas, nach. Er besucht sie in ihren Abteien im Veneto, in der Lombardei, in Südtirol, in der Schweiz und in der Normandie, in Bayern, Belgien, Niederösterreich und Ungarn. Er spricht mit den Ordensleuten und fndet in ihren Prinzipien eine positive Kraft - gerade heute, da Abgrenzung und Abschottung die Utopie der Gründer zu zerstören drohen. Europa, über Jahrhunderte geprägt von Invasionen und Migrationswellen, muss ein Raum der Gastlichkeit bleiben. Ein Raum, der auf ein menschenwürdiges Wirtschaften und der Hände Arbeit baut, auf die Freude an der Gemeinschaft, den Respekt gegenüber der Natur und vor allem auf Barmherzigkeit.

Paolo Rumiz, geboren 1947 in Triest, ist mit seinen eigenwilligen Büchern der erfolgreichste Reiseschriftsteller Italiens. Er berichtete für die Tageszeitung 'La Repubblica' über den Afghanistan-und den Jugoslawien-Krieg. Zahlreiche Preise für sein journalistisches Engagement. Unzählige Essays, Romane und Erzählungen über seine Reisen innerhalb Italiens und an die entlegensten Orte Europas. Bei Folio sind erschienen: Der Leuchtturm (2017), Die Seele des Flusses (2018) und Via Appia (2019).

Norcia, April 2017


Nach den Ruinen der Dörfer waren keine Menschen mehr zu sehen und die Berge wurden rau und unwegsam. Von einem windgepeitschten Sattel stiegen wir im Nebel langsam durch eine verschneite Rinne ab; als wir unten ankamen, durchbrach ein Sonnenstrahl das Grau, funkelte an einem immergrünen Himmel und offenbarte zur Rechten die schneeweißen Berge der Prophetin Sibylle und zur Linken, umrahmt von Hügeln, eine unerwartete, weite, fast mongolisch anmutende Senke, mit vor Schmelzwasser gurgelnden Bächen und einem Rasenteppich mit Büscheln von Krokussen, Nieswurz und Schlüsselblumen, im Schutz des Kreisrunds der Berge.

Diese verzauberte und von unten unsichtbare Ebene namens Pian Grande, die man in diesem April unbedingt barfuß durchlaufen musste, um die Stimme der Erde zu vernehmen, diese Steppe, in der es schon jetzt von Leben wimmelte und in der im Mai eine in Europa einzigartige Blütenpracht explodieren würde – Gelb, Violett, Rot und Blau von Linsen, Mohn und Lilien –, lag in der Mitte der Bruchlinie, an der der Apennin gebebt hatte, und gleichzeitig genau in der Mitte der Halbinsel inmitten des Mittelmeers.

Wir wussten, von 1000 Metern oberhalb der Almen, von dem verschneiten Kamm eines Berges, den man – wahrscheinlich, um die Götter der Tiefe günstig zu stimmen – Redentore (Erlöser) getauft hatte, sah man im Nordosten die blaue Tafel der Adria und im Südwesten, hinter dem Terminillo, die Küste des Tyrrhenischen Meeres. Und auf dem Berghang, der weiß und gleichmäßig geneigt war wie der Ararat oder der Ätna, sah man die lange Narbe des Apennin, die – wenn man die Böschung auf halber Höhe überquerte – die Menschen in Form eines Erdrutsches warnte, der einen kahlen Felsen zurückgelassen hatte. Die einzige Ortschaft – das befestigte Castelluccio, das nur noch eine Ruine war – am Grund der Senke bestätigte die Vorherrschaft des Gebirges.

Wir befanden uns in einer grandiosen Einsamkeit, wir waren die einzigen Lebewesen in dieser tibetisch anmutenden Ebene, und wir reagierten auf dieses Privileg mit einer nervösen und argwöhnischen Euphorie. In den Alpen gab es nichts Vergleichbares. Nirgendwo s