1. Kapitel – Daria
»Mama, guck mal!«, rief ich und sprang in eine große Pfütze. Kaltes Wasser schwappte mir in die Gummistiefel und ich quietschte erschrocken auf, als meine Socken nass wurden.
»Ach Marlowe.«
Ich warf einen Blick über meine Schulter und bemerkte erleichtert, dass meine Mutter zwar mahnend den Kopf schüttelte, dabei aber lächelte. Zufrieden watete ich durch die Pfütze, die in der Mitte so tief war, dass ich fast bis zu den Knien in ihr versank. Hinter mir hörte ich, wie meine Mutter das Gespräch mit ihrer Freundin wieder aufnahm, die mit uns in den Wald gekommen war. Ich konzentrierte mich wieder auf das, was vor mir lag. Eigentlich wartete ja zu Hause ein neues Spielzeug auf mich … aber ein Klassenkamerad hatte von einem Schatz erzählt, der im Wald vergraben war! Wenn ich den vor allen anderen fand, würde ich berühmt werden!
Ich nutzte aus, dass keiner auf mich achtete, und rannte vorwärts, aus der Pfütze hinaus. Den Weg ließ ich dabei hinter mir und kämpfte mich durch das feuchte Unterholz auf der Suche nach besagtem Schatz. Seit Tagen versank die Welt vor unserer Haustür im Nebel, der meinen Abstecher zwischen die Bäume noch aufregender machte. Während ich mich immer weiter von den vertrauten Stimmen entfernte, summte ich ein Lied, das ich in der Schule aufgeschnappt haben musste. Nur der Text fiel mir nicht ein!
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung und neugierig sah ich den Busch zu meiner Rechten an. Seine Blätter zitterten und als sich seine Äste teilten, machten sie … einem Eichhörnchen Platz!
»Oh«, stieß ich leise hervor und blieb stocksteif stehen. Braune, kleine Augen blinzelten mich an, der buschige, rote Schwanz zuckte neugierig. Das Fell sah so weich und flauschig aus, dass ich es am liebsten gestreichelt hätte! Aber wenn ich mich bewegte, würde das Tier sicher wegrennen.
Das Eichhörnchen entfernte sich ein paar hopsende Sprünge vom Busch und ich beobachtete es gebannt. Ich wagte kaum zu atmen, geschweige denn einen Finger zu rühren. Als es ein paar Meter von mir entfernt zwischen den Bäumen angekommen war, drehte es sich halb herum und erwiderte meinen Blick. Es sah beinahe ungeduldig aus.
»Soll ich … soll ich mitkommen?«, fragte ich und mein Herz begann in meiner Brust zu hüpfen. Vielleicht konnte ich ja wirklich mit Tieren sprechen, wie das Mädchen in dem Buch, das meine Mutter mir am Abend zuvor vorgelesen hatte!
Das Eichhörnchen sprang wieder ein Stück vorwärts, ehe es sich erneut zu mir umdrehte. Das musste eine Aufforderung sein!
Vorsichtig und sehr langsam folgte ich ihm. Fast rechnete ich damit, dass es ganz plötzlich verschwinden würde, aber es sprang nur tiefer in den Wald hinein. Immer schneller musste ich laufen, um das Tier nicht aus den Augen zu verlieren. Die Bäume standen inzwischen so dicht zusammen, dass ich im Zickzack um sie herumgehen musste. Die Geräusche hinter mir verschwanden, bis nur noch dumpfe Stille auf meine Ohren drückte. Nichts davon konnte mich aber davon abhalten, mich weiter auf das Eichhörnchen zu konzentrieren. Als ich nach einiger Zeit dann doch den Kopf hob, bemerkte ich, dass der Boden in einen dicken Teppich aus Nebel gehüllt war und eine graue Wand den Wald vor mir verschluckte. Im nächsten Moment war das Eichhörnchen in dem Grau verschwunden und ohne zu zögern folgte ich ihm. Oder zumindest versuchte ich es, denn da war kein Boden mehr unter mir, kein Wald, kein Nebel.
Ich stürzte in ein leeres Nichts und etwas riss an meinem Körper. Zerrte ihn in tausend Richtungen, zerriss ihn und setzte ihn neu zusammen.
»Marlowe!«
Die Kälte des Herbsttages wurde durch beinahe unerträgliche Hitze ersetzt, die sich durch meinen Körper brannte. Das Blut kochte in meinen Adern und trotzdem spürte ich, wie meine Glieder zitterten.
Etwas Kühles berührte meine Stirn.
»Es wird alles gut.«
In rasender Geschwindigkeit zogen die Bilder meiner Kindheit an meinem inneren Auge vorbei. Mein Leben im Sommerland wechselte sich mit meinem alten ab, eine wirre Abfolge von dumpfen Erinnerungen. Das Gesicht meiner leiblichen Mutter nur noch ein bunter Fleck, der nach un