1. KAPITEL
Pierce Averys Tag war dermaßen schlecht, dass alle anderen schlechten Tage seines bisherigen Lebens daneben verblassten. Sein Magen drückte vor Anspannung, und sein Kopf fühlte sich an, als würde er in einem Schraubstock stecken. Wahrscheinlich sollte er in seiner gegenwärtigen Verfassung noch nicht mal am Steuer sitzen.
Wenn er sonst schlecht drauf war, fuhr er mit seinem Kajak gern einen Fluss hinunter. An einem heißen Augustnachmittag gab es nichts Schöneres, als sich die Gischt ins Gesicht spritzen zu lassen, während einen gleichzeitig Freude durchströmte und innerer Friede überkam. Schon als Teenager hatte Pierce gewusst, dass er nicht dazu geschaffen war, seine Tage am Schreibtisch zu verbringen. Er vernahm den Lockruf der Natur und wusste, wo sein Platz war.
Als junger Mann hatte ihn das vor die Herausforderung gestellt, einen Beruf zu finden, bei dem er sich weiterhin wie ein verspieltes Kind aufführen durfte und auch noch dafür bezahlt wurde. Da derartige Beschäftigungsverhältnisse eher rar gesät waren, hatte er selbst kurzerhand eine Firma gegründet. Nun verbrachte er seine Tage damit, Studenten, ihrem natürlichen Lebensraum entrissene Manager und abenteuerlustige Senioren durch die Wildnis zu führen.
Er unternahm mit ihnen Abenteuertouren, ließ sich von Felsen abseilen, kletterte in Höhlen und ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach – dem Kajakfahren. Er liebte seinen Job von ganzem Herzen. Genau wie sein Leben. Doch heute bröckelte das Fundament seiner Existenz wie die Erde bei einem heftigen Regensturm.
Er stellte den Wagen in einer ruhigen Seitenstraße von Charlottesville ab. Das Semester an der Universität von Virginia hatte noch nicht begonnen, und die Straßencafés waren nur spärlich bevölkert. Trotz seiner rebellischen Natur hatte die Zeit auf der Universität Pierce’ Charakter geformt. Mit Auszeichnung hatte er hier seinen Magisterabschluss in Betriebswirtschaft erworben, weil sein Vater ihn dazu gedrängt hatte, sein volles Potenzial auszuschöpfen.
Pierce hatte seinem Vater alles zu verdanken. Und nun, Jahre später, wo sein Vater ihn brauchte, konnte Pierce ihm nicht helfen.
Mit zitternden Fingern schloss er den Wagen ab und starrte dann auf den unauffälligen Büroeingang. Vor dem Backsteingebäude standen Tontöpfe mit Geranien in der warmen Sonne. Über der Türklingel befand sich ein eingraviertes Messingschild. Alles Mögliche hätte sich hinter dieser Fassade befinden können: ein Arzt, ein Steuerberater, ein Akupunkteur. Nur ein Zu-Vermieten-Schild im Fenster störte das Bild.
Das städtische Leben in Charlottesville blühte, es gab viele Kunstgewerbeläden, aber auch ganz normale Geschäfte. Eine Exfreundin von Pierce betrieb wenige Straßen entfernt eine Töpferei. Doch heute war er zu abgelenkt, um daran zu denken. Selbst den Duft von frischem Brot, der von der Bäckerei nebenan herüberwehte, nahm er kaum wahr.
Pierce hatte einen Termin bei einer Nicola Parrish. Er läutete an der Tür und wurde sofort eingelassen. Im Vergleich zum blendenden Sonnenschein draußen wirkte der Empfangsbereich düster. Es war kühl und duftete nach Kräutern, die in Töpfen eines Erkerfensters wuchsen. Eine Frau mittleren Alters blickte von ihrem Computerbildschirm auf und lächelte ihn an. „Mr. Avery?“
Pierce nickte hastig. Er wusste, dass er zu früh war, hatte es aber einfach keine Sekunde länger zu Hause ausgehalten.
Die Empfangsdame lächelte ihn an. „Gehen Sie ruhig direkt rein. Miss Parrish ist bereit für Sie.“
Pierce wusste nicht, was ihn erwartete. Seine Mutter hatte den Termin vereinbart. Tatsächlich hätte er einiges darum gegeben, wenn er einfach hätte verschwinden und die ganze Sache vergessen können.
Miss Parrish erhob sich, als er eintrat, und streckte ihm die Hand entgegen. „Guten Tag, Mr. Avery. Mein Name ist Nicola