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BABYS IN MITTLEREN JAHREN
Was uns in diesem Buch erwartet und worauf wir unbedingt hoffen sollten
Wir leben in ernsten Zeiten und sind dennoch eine infantile Gesellschaft. Dieses Buch handelt von beidem. Von der Art, wie wir miteinander umgehen, und von den Strategien, uns den anderen vom Leib zu halten. Von der Mündigkeit, auf die wir lustvoll verzichten, und von den Wegen heraus aus der Unreife. Von der Verantwortung, die wir bei anderen einklagen, und der Verantwortung, die wir selbst scheuen, als wären wir Kinder. Und wie beides zusammenhängt, obwohl es paradox erscheint. Dieses Buch handelt von zwei Seelen in unser aller Brust, auch in meiner. Ich muss Sie darum warnen: Auch von mir wird in diesem Buch die Rede sein.
Die infantile Gesellschaft ist keineswegs eine Erscheinung neueren Datums, wenngleich sie nie ausgeprägter schien als heute. In einem Aufsatz von1932, erschienen an Heiligabend im »Chicago Herald«, klagt der Schriftsteller Aldous Huxley: Bereits zu Beginn des19. Jahrhunderts habe ein »morbider Kult des Infantilen« eingesetzt. Dessen Spuren verfolgt der Autor von »Schöne neue Welt« zurück zu seinen Schriftstellerkollegen William Wordsworth und Charles Dickens. Von Wordsworth stammt der erstaunliche Satz, das Kind sei der Vater des Mannes. Aldous Huxley hält dagegen: »Für alle früheren Autoren war der Mann immer und ganz fraglos der Vater des Kindes; mit anderen Worten, die erwachsenen Interessen und Werte standen auf einer höheren Stufe als die der Kindheit.« Dieses Verhältnis habe sich seitdem umgekehrt.
Charles Dickens sei auf dieser falschen Spur weitergeschritten, sodass »die höchste Form des Menschentums« plötzlich nicht mehr »der erwachsene Heros« war, sondern »das Baby in mittleren Jahren«. In seinem Roman über die »Pickwickier« (1836) habe Dickens »kahlköpfigen alten Windelnässern« den »Heiligenschein köstlicher Lächerlichkeit« verliehen. Vollendet wurde die »Mythologie des Infantilen« durch Peter Pan, jenen Knaben, der nie erwachsen wird. Diese Geschichte, folgert Huxley, hätte ohne das Bedürfnis der Leute, »sich im Kindischen zu suhlen«, keinen derart großen, keinen allgemeinen Erfolg gehabt. Was folgt daraus? Nichts Gutes. Huxley schließt scharf und bitter: »Der Kult des Kindischen hindert die Menschen daran, während der letzten zwei Drittel ihrer natürlichen Existenz sinnvoll zu leben.«
Rund neunzig Jahre später können wir diese Befürchtung auf die Gesellschaft übertragen. Sinnvolles Leben, sinnvolle Politik sind kaum möglich, wenn das Unreife zum Leitbild erhoben wird. Mit dem Kindischen ist freilich nicht das Kindliche gemeint. Das Kindische ist Nicht-Kindern vorbehalten. Kinder verhalten sich sehr zurecht kindlich. Kindische Erwachsene sind Erwachsene im Stand selbstverschuldeter Unreife. Kindisch ist es, so zu tun, als wäre man, was man nicht mehr ist: Kind. Kindisch nennen wir den inszenierten Rückfall in eine abgelebte Zeit. Infantilität ist ein einziges großes So-tun-als-ob. Unernst ist es dem Sinn nach, bitterernst wird es ausgeführt. Peinlich kann es werden.
In unserer gegenwärtigen Gesellschaft stoßen wir auf viele machtvolle Infantilismen. Teils dienen sie politischen, teils wirtschaftlichen Interessen. Manchmal sollen sie auch ein Ich vor der Verantwortung für sein Tun schützen. Oder eine Gruppe davor bewahren, gewogen und für zu leicht befunden zu werden. Erwachsene sind nicht zufällig kindisch. Sie sind es, weil sie es sein wollen. Sie inszenieren sich als unmündig, um nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Sie greifen zu vorreifen Verhaltensweisen, um ewig unverbindlich spielen zu können. Und werden so zum Spielball der anderen. Darin liegt die Nachtseite von so viel Kinderei, die Gefahr. Der kindische Mensch wird schnell zum manipulierten Bürger – oder zum skrupellosen Machthaber.
Dabei ist die Theorie hinter der Rückverwandlung des Menschen ins Kind, das er war, nicht von vornherein destruktiv. Aus dem Knaben im Mann, dem Kind im Menschen könnte ein ursprüngliches, unverbogenes Dasein sprechen. Das innere Kind soll die Quelle sein zu einem echten Leben, nicht entstellt von Konvention, Tradition, Bildung. Der authentische Mensch wird im Kind verherrlicht. Insofern ist der Ahnherr unserer kindischen Gegenwart der Philosoph Jean-Jacques Rousseau – ein schlimm missverstandener Rousseau freilich. Nicht Rousseauisten, sondern Vulgärrousseauisten sind die heutigen Helden des Kindischen. Rousseau empfahl keineswegs einer ganzen Gesellschaft, am Ende gar einer nach Milliarden zählenden Weltbevölkerung den Weg zurück zur Natur, ins Unvernünftige und zum Naturwesen Kind. Er plädierte für lokale, überschaubare Gemeinschaften, in denen sich Geist und Natur im Gleichgewicht halten. Er wollte keine kindische, sondern eine wahrhafte Gesellschaft, ohne Lug und Trug und Zärtelei. Für »alte Windelnässer« war da kein Platz. Wir werden von Rousseau in diesem Buch oft hören. Es lohnt sich, ihn zu lesen, vor allem seine Erziehungsfantasie »Émile«.
Leider biegen heute viele Zeitgenossen mit Rousseau falsch ab ins Zauberreich der Gefühligkeit – und in ein Bild von Natur, das ganz und gar unnatürlich ist. Ins Unermessliche gestiegen sind die Ratgeber und Erklärbücher, die in der Natur das einzige legitime säkulare Lehramt erblicken. Natürlich ist der Mensch ein Naturwesen, das mit der ihn umgebenden Natur schonend umgehen sollte. Natürlich schadet der Raubbau an den natürlichen Ressourcen dem Menschen am stärksten. Natürlich darf die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung den Homo sapiens nicht dazu verleiten, rücksichtslos alles auszubeuten, was nicht Mensch ist, und so am Ende den Menschen auch. Keineswegs aber hält die nichtmenschliche Natur ein geheimes Wissen bereit, das allein dem verbildeten Menschen den Weg weist zurück zu Glück un