Das Opfer war nicht die bezauberndste aller Vorstellungen in der Neuzeit; es ist ein Zeichen von Selbsterniedrigung und repressiver Entsagung. Leidgeprüfte Ehefrauen tun es für ihre herrschsüchtigen Ehemänner, Dienstmädchen für ihre verwöhnten Herrinnen, Krankenschwestern und Stahlarbeiter zum Wohle der Wirtschaft und Sturmtruppen für das Vaterland. Eine erschöpfte Mutter in Edward St. Aubyns RomanMuttermilch, deren Leben in Trümmern liegt und deren Wünsche unerfüllt geblieben sind, spricht von der »Tyrannei der Selbstaufopferung«. Der Begriff riecht nach Masochismus, Selbsthass und einer krankhaften Antipathie gegen das, was das Leben ausmacht. Das Opfer beginnt als Versuch, einen wilden Gott zu besänftigen und gipfelt im Ruf des faschistischen Vaterlandes mit seinen nekrophilen Riten und Zeremonien der Selbstaufopferung. J.M. Coetzee schreibt inLebenundZeitdesMichaelK. darüber, wie jemand einfach »ein weiterer Stein in der Pyramide des Opfers [sein kann], die irgendwer schließlich besteigen würde, um sich breitbeinig oben hinzustellen, brüllend und an die Brust schlagend und als Kaiser ausrufend von allen, die er überblickte.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein Denker, von dem manchmal fälschlicherweise gedacht wird, er würde die menschliche Natur mit Optimismus betrachten, schreibt: »Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.«1
Die gängige liberale Meinung hält Selbstverwirklichung und Selbstentzug im Wesentlichen für unvereinbar. Eine radikalere Sichtweise tut das nicht. Man muss schon, wie so viele Liberale, mit der Menschheit äußerst nachsichtig verfahren, um davon auszugehen, dass das Selbst zum Tragen kommen kann, ohne die grundlegende Zerschlagung und Umgestaltung, deren traditionelles Zeichen das Opfer war. Das wäre gleichbedeutend mit der Behauptung, dass sich die Formen des politischen Lebens, die wir um uns herum sehen, ohne nennenswerte Turbulenzen zu einem Zustand der Gerechtigkeit entwickeln könnten. Jene, die dem Opfer die Liebe entgegenhalten, vergessen, dass jede dauerhafte Version der letzteren die für die erstere typische Selbsthingabe einschließt. Tatsächlich gibt es eine Art von Opferliebe, die darin besteht, Gewalt gegen das Selbst auszuüben. Die Aufgabe beruht nun darin, diese todbringende Ideologie abzulehnen und gleichzeitig mit Hegel anzuerkennen, dass im fruchtbareren Sinne des Wortes die innere Struktur der Liebe auf jeden Fall Opfer erfordert – wobei wir von gegenseitiger Hingabe sprechen, nicht von der erbärmlichen Kapitulation eines Partners in die Herrschaft des anderen. Wie es eine Beobachterin ausdrückt, sind »Opfer und Entsagung kein Selbstzweck, sondern wesentlich dafür, das eigene [Selbst] zu vergessen, wenn man den anderen liebt«.2 »Vergessen« ist eine fragwürdige Behauptung, denn die Liebe stärkt das Selbst, indem es das Selbst dezentriert. Dennoch korrigiert eine solche Einstellung die modische Ansicht, dass das Opfer notwendigerweise eine Form der Selbstverstümmelung ist.
Diese orthodoxe Lehre hat das Konzept des Opfers fast einstimmig als barbarisch und rückständig abgelehnt. Im Anschluss an Thomas Hobbes, für den die Selbsterhaltung die höchste moralische Pflicht ist, behauptet Ronald Dworkin, dass sich die Verantwortung für andere nicht auf übermäßige Selbstaufopferung erstrecken kann, da die Hauptverantwortung dem eigenen Leben gilt. Diese Art von Ethik eignet sich gut für das Leben im bürgerlichen Vorort. Nach Ansicht von Dworkin besteht zwar eine moralische Verpflichtung, anderen zu helfen, aber nur, wenn sie mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert sind, keine zu hohen Kosten für die Leistungen entstehen und jene, die eine solche Hilfe benötigen, davon abhängig sind, dass im Speziellen Sie diese leisten.3 In ähnlichem Sinne lehnt John Rawls die Idee des Opferns für das Wohl der Allgemeinheit ab und leugnet, dass ein Verlust der Freiheit für die Wenigen durch das Wohl der Vielen gerechtfertigt werden kann.4 Jürgen Habermas behauptet, dass die »Vernunftmoral die Abschaffung des Opfers besiegelt«, wobei er zweifellos erschlagene Ziegen und nicht die Toten der französischen Résistance im Sinn hat.5 Wenn der Begriff »Opfer« zur Diskussion steht, wendet sich der moderne l