: Terry Eagleton
: Opfer Selbsthingabe und Befreiung
: Promedia Verlag
: 9783853718803
: 1
: CHF 15.20
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: Praktische Theologie
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Die gängige liberale Meinung hält Selbstverwirklichung und Selbstenteignung im Wesentlichen für unvereinbar. Eine radikalere Sichtweise tut das nicht. Man muss schon, wie so viele Liberale, mit der Menschheit äußerst nachsichtig verfahren, um davon auszugehen, dass sich das Selbst entfalten kann, ohne grundlegende Zerschlagung und Umgestaltung, deren traditionelles Zeichen das Opfer ist.' Der bekannte englische Philosoph Terry Eagleton untersucht in seinem neuen Buch den Gedanken und das Ereignis des Opfers, das für ihn Grundlage der modernen wie auch traditioneller Gesellschaftsordnungen darstellt. Während der gegenwärtige Zeitgeist das Opfer als barbarisch und rückständig betrachtet (oder es nur als individualistisches Mittel der Selbstoptimierung kennt), ist es für Eagleton von zentraler Bedeutung für Geschichte und Emanzipation der Menschheit. Der Autor verfolgt den Diskurs über Sinn und Praxis des Opfers vom Alten Testament über das antike Griechenland bis zum ultimativen Opfer der Kreuzigung von Jesus Christus, das in seiner Analyse als Signal eines Bündnisses von Gottes Sohn mit den 'Verdammten der Erde' präsentiert wird. Eagleton setzt sich mit einer Vielzahl von bedeutenden Stimmen auseinander - von Freud über Lacan, Derrida, Heidegger und Nietzsche bis zu ?i?ek, Marx und J.K. Rowling. In Betrachtungen und Meditationen über Tod und Eros, Ironie und (postmoderne) Beliebigkeit erforscht er die Bedeutung des Opfers und versucht, diese radikale Idee mit Politik und Revolution zu verbinden. Im Kapitel über 'Könige und Bettler' geht Eagleton der Figur des Sündenbocks quer durch die Jahrhunderte nach. Im Kapitalismus identifiziert er dabei das Proletariat als Sündenbock - und mit Karl Marx als revolutionäres Subjekt. 'Der Übergang vom Christentum zum Marxismus ist unter anderem ein Übergang von einer Vision der Armen als jene, die die Zukunft ankündigen, zu einem Glauben an sie als dem wichtigsten Mittel zu ihrer Erreichung.' Eagleton spricht sich dafür aus, dem Leben durch Aufopferung für die Geknechteten wieder einen Sinn zu geben.

Terry Eagleton, geboren 1943 in Salford (England), lehrt englische Literatur an der Universität von Lancaster. Zuvor unterrichtete er unter anderem in Oxford, Manchester, Duke und Yale. Seine marxistisch inspirierte Philosophie und Literaturtheorie legte er in über 40 Büchern nieder, von denen viele auch im deutschsprachigen Raum zu Bestsellern wurden. Zuletzt erschien von ihm bei Promedia: 'Materialismus. Die Welt erfassen und verändern' (2018).

Kapitel Eins: Radikales Opfer


Das Opfer war nicht die bezauberndste aller Vorstellungen in der Neuzeit; es ist ein Zeichen von Selbsterniedrigung und repressiver Entsagung. Leidgeprüfte Ehefrauen tun es für ihre herrschsüchtigen Ehemänner, Dienstmädchen für ihre verwöhnten Herrinnen, Krankenschwestern und Stahlarbeiter zum Wohle der Wirtschaft und Sturmtruppen für das Vaterland. Eine erschöpfte Mutter in Edward St. Aubyns RomanMuttermilch, deren Leben in Trümmern liegt und deren Wünsche unerfüllt geblieben sind, spricht von der »Tyrannei der Selbstaufopferung«. Der Begriff riecht nach Masochismus, Selbsthass und einer krankhaften Antipathie gegen das, was das Leben ausmacht. Das Opfer beginnt als Versuch, einen wilden Gott zu besänftigen und gipfelt im Ruf des faschistischen Vaterlandes mit seinen nekrophilen Riten und Zeremonien der Selbstaufopferung. J.M. Coetzee schreibt inLebenundZeitdesMichaelK. darüber, wie jemand einfach »ein weiterer Stein in der Pyramide des Opfers [sein kann], die irgendwer schließlich besteigen würde, um sich breitbeinig oben hinzustellen, brüllend und an die Brust schlagend und als Kaiser ausrufend von allen, die er überblickte.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein Denker, von dem manchmal fälschlicherweise gedacht wird, er würde die menschliche Natur mit Optimismus betrachten, schreibt: »Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind.«1

Die gängige liberale Meinung hält Selbstverwirklichung und Selbstentzug im Wesentlichen für unvereinbar. Eine radikalere Sichtweise tut das nicht. Man muss schon, wie so viele Liberale, mit der Menschheit äußerst nachsichtig verfahren, um davon auszugehen, dass das Selbst zum Tragen kommen kann, ohne die grundlegende Zerschlagung und Umgestaltung, deren traditionelles Zeichen das Opfer war. Das wäre gleichbedeutend mit der Behauptung, dass sich die Formen des politischen Lebens, die wir um uns herum sehen, ohne nennenswerte Turbulenzen zu einem Zustand der Gerechtigkeit entwickeln könnten. Jene, die dem Opfer die Liebe entgegenhalten, vergessen, dass jede dauerhafte Version der letzteren die für die erstere typische Selbsthingabe einschließt. Tatsächlich gibt es eine Art von Opferliebe, die darin besteht, Gewalt gegen das Selbst auszuüben. Die Aufgabe beruht nun darin, diese todbringende Ideologie abzulehnen und gleichzeitig mit Hegel anzuerkennen, dass im fruchtbareren Sinne des Wortes die innere Struktur der Liebe auf jeden Fall Opfer erfordert – wobei wir von gegenseitiger Hingabe sprechen, nicht von der erbärmlichen Kapitulation eines Partners in die Herrschaft des anderen. Wie es eine Beobachterin ausdrückt, sind »Opfer und Entsagung kein Selbstzweck, sondern wesentlich dafür, das eigene [Selbst] zu vergessen, wenn man den anderen liebt«.2 »Vergessen« ist eine fragwürdige Behauptung, denn die Liebe stärkt das Selbst, indem es das Selbst dezentriert. Dennoch korrigiert eine solche Einstellung die modische Ansicht, dass das Opfer notwendigerweise eine Form der Selbstverstümmelung ist.

Diese orthodoxe Lehre hat das Konzept des Opfers fast einstimmig als barbarisch und rückständig abgelehnt. Im Anschluss an Thomas Hobbes, für den die Selbsterhaltung die höchste moralische Pflicht ist, behauptet Ronald Dworkin, dass sich die Verantwortung für andere nicht auf übermäßige Selbstaufopferung erstrecken kann, da die Hauptverantwortung dem eigenen Leben gilt. Diese Art von Ethik eignet sich gut für das Leben im bürgerlichen Vorort. Nach Ansicht von Dworkin besteht zwar eine moralische Verpflichtung, anderen zu helfen, aber nur, wenn sie mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert sind, keine zu hohen Kosten für die Leistungen entstehen und jene, die eine solche Hilfe benötigen, davon abhängig sind, dass im Speziellen Sie diese leisten.3 In ähnlichem Sinne lehnt John Rawls die Idee des Opferns für das Wohl der Allgemeinheit ab und leugnet, dass ein Verlust der Freiheit für die Wenigen durch das Wohl der Vielen gerechtfertigt werden kann.4 Jürgen Habermas behauptet, dass die »Vernunftmoral die Abschaffung des Opfers besiegelt«, wobei er zweifellos erschlagene Ziegen und nicht die Toten der französischen Résistance im Sinn hat.5 Wenn der Begriff »Opfer« zur Diskussion steht, wendet sich der moderne l