: Antonin Artaud
: Heliogabal
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783957579126
: 1
: CHF 5.40
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Im überaus reichen Repertoire schauerlicher, lasterhafter und prunkvoller Wechselfälle aus der dekadenten römischen Spätzeit ist das Leben des Heliogabal ein Grenzfall: Gottkaiser mit vierzehn Jahren, umgebracht und in eine Kloake geworfen mit achtzehn, Priester und Wüstling, bewusster Verwalter von Zerfall und Anarchie inmitten der grandiosesten politischen Ordnung, die die klassische Welt hervorgebracht hat, und alles, was wir von seinem Leben wissen, steht bereits per se im Zeichen der Zuspitzung aller Kontraste, es ist eine Biografie, die nur aus Exzessen besteht.' Roberto Calasso In dieser Romanbiografie gibt Antonin Artaud zu Beginn der Dreißigerjahre alles an Wut und Verzweiflung hinein, die er selbst gegen die Welt seiner Zeit hegt, in einer wuchtigen Sprache voller Gewalt und Übertreibung revoltiert er damit gegen die Gesellschaft, indem er sich in Heliogabal spiegelt.

Antonin Artaud (1896-1948), Schriftsteller, Schauspieler und Theatertheoretiker, beeinflusste mit seiner Konzeption eines Theaters der Grausamkeit die Entwicklung des modernen Theaters entscheidend. Ausgelöst durch eine Erkrankung in der Kindheit war er zeitlebens in psychiatrischer Behandlung. Antonin Marie Joseph Artaud wird am 4. September 1896 in Marseille geboren. Mit fünf Jahren erkrankt Antonin Artaud schwer an Meningitis. Er übersteht die Krankheit zwar, bleibt aber lebenslang Patient. Um seine Schmerzen zu erleichtern, werden ihm als Kind die Medikamente in die Speisen gemischt. Außerdem wird er mit einem damals populären neuen Gerät behandelt, einem Ozon sowie Gleichstrom erzeugenden Apparat, der an die Kopfhaut angeschlossen wird. Mit 14 Jahren gibt Artaud gemeinsam mit Schulkameraden eine Zeitschrift heraus, in der er unter dem Pseudonym Louis de Attides erste Gedichte veröffentlicht. Das erste erhaltene Gedicht schreibt er im Alter von 17 (Le navire mystique). Kurz vor seinem Schulabschluss verschlechtert sich Artauds Gesundheitszustand so sehr, dass er sich für einige Monate in ein Sanatorium begeben muss. Ab diesem Zeitpunkt kann er nicht mehr ohne Opium leben. Bis Anfang 1920 hält er sich in verschiedenen psychiatrischen Kliniken auf, unterbrochen durch den Militärdienst, den er dank Intervention seines Vaters nach neun Monaten abbrechen kann. Nach mehreren Kur- und Klinikaufenthalten, in denen er auch dichtet, zeichnet und malt, zieht er Ende 1920 nach Paris, wo er fortan ambulant behandelt wird. In den folgenden Jahren spielt er über zwanzig kleine Theaterrollen und in etlichen Filmrollen, bleibt allerdings als Schauspieler ohne durchschlagenden Erfolg. Als Mitglied der Theatergruppe Théâtre de l'Atelier von Charles Dullin entwickelt er eine große Theaterbegeisterung, lässt sich aber kaum in die Gruppe einbinden. Im Herbst 1924 schließt sich Artaud, trotz stetiger Skepsis, der surrealistischen Gruppe um André Breton an. Bereits zwei Jahre später wird er, im Zuge der Krise vor der revolutionären Neuausrichtung des 2. Manifestes, offiziell wieder ausgeschlossen. Artaud hatte gemeinsam mit dem antikonformistischen Schriftsteller Roger Vitrac und dem Historiker Robert Aron das Théâtre Alfred Jarry gegründet und sich mit der surrealistischen Bewegung nicht im Sinne der anderen Vertreter identifiziert. Im Juni 1927 wird das Théâtre Alfred Jarry ohne festes Haus mit Inszenierungen von Artaud und Vitrac eröffnet. Geprägt von finanziellen Problemen, inhaltlichen Differenzen mit den Surrealisten und wechselnder Motivation der Beteiligten musste es trotz massiver finanzieller Unterstützung durch private Gönner schon zwei Jahre später wieder schließen. Während dieser Zeit ist Artaud außerdem mit wechselndem Erfolg als Schauspiellehrer, Mitarbeiter an Filmen und Publizist tätig. Anfang der 1930er-Jahre verfasst Artaud, inzwischen Mitte 30, seine wichtigsten theoretischen Aufsätze über das Theater. So entsteht 1931 Das balinesische Theater, 1932 das auf dem balinesischen Theater gründende, von ihm entwickelte Theater der Grausamkeit, sowie 1933 Das Theater und die Pest und Schluss mit den Meisterwerken. 1935 wird das von ihm geschriebene und gespielte Stück Les Cenci uraufgeführt. Es wird ein Misserfolg, woraufhin Artaud eine Reise nach Mexiko antritt. Er hält sich, von Mexiko City enttäuscht, einige Wochen bei den Tarahuma-Indianern in der Sierra Madre auf und beschäftigt sich mit altmexikanischer Kultur und deren Magie. 1937 schifft er sich ein paar Monate nach der Rückkehr aus Mexiko nach Irland ein. Dort widmet er sich mystischen Studien und der Astrologie. Unter dramatischen Umständen endet der Irland-Aufenthalt.

I
DIE SPERMAWIEGE


Pulsiert um den Leichnam Heliogabals, der ohne Grab endete, abgeschlachtet von seiner Polizei in den Latrinen seines Palastes, ein mächtiger Strom von Blut und Exkrementen, so pulsiert um seine Wiege ein mächtiger Strom von Sperma. Heliogabal wird in einer Zeit geboren, wo jeder mit jedem schlief; und man wird nie erfahren, wo und von wem seine Mutter wirklich geschwängert worden ist. Für ihn als syrischen Fürsten gibt die Abkunft mütterlicherseits den Ausschlag; – was aber die Mütter angeht, schart sich um diesen neugeborenen Fuhrmannssohn ein Siebengestirn von Julien; – und alle diese Julien, ob sie regieren oder nicht, sind hochgestellte Dirnen.

Der Stammvater dieser weiblichen Quelle, dieser Flut von Schamlosigkeiten und Niedertracht, musste, bevor er Priester wurde, Fuhrmann gewesen sein, denn sonst wäre Heliogabals Versessenheit, nachdem er den Thron bestiegen hatte, sich von Fuhrleuten sodomisieren zu lassen, ganz unerklärlich.

Jedenfalls stößt die Geschichtsschreibung, die Heliogabals Abstammung über die weibliche Linie zurückverfolgt, unweigerlich auf diesen vertrottelten, nackten Schädel, auf dieses Fuhrwerk und diesen Bart, die in unseren Annalen zur Erscheinung des alten Bassianus gehören.

Dass diese Mumie einem Kult dient, spricht nicht gegen den Kult, wohl aber die stumpfsinnigen, leeren Riten, auf welche die Zeitgenossen der Julien und des Bassianus sowie das Syrien zur Zeit von Heliogabals Geburt diesen Kult schließlich beschränkt hatten.

Doch man wird erleben, wie dieser tote, auf ein Gerippe von Gesten beschränkte Kult, dem sich Bassianus weihte, mit dem Auftauchen des jungen Heliogabal auf den Stufen des Tempels von Emesa unter mancherlei Glaubensformen und Entstellungen seine Energie konzentrierten Goldes, hallenden, geballten Lichtes, zurückgewinnt und aufs Neue wunderbar wirksam wird.

Jedenfalls stützt sich dieser Ahn Bassianus wie auf Krücken auf ein Bett und macht mit irgendeiner Frau zwei Töchter, Julia Domna und Julia Moesa. Er macht sie, und zwar prächtig. Sie sind schön. Schön und fertig für ihr doppeltes Gewerbe als Kaiserinnen und Nutten.

Mit wem hat er diese Töchter gemacht? Die Geschichte kann darüber bis zur Stunde nichts berichten. Geben wir also zu, besessen wie wir sind von den vier Medaillenköpfen der Julia Domna, Julia Moesa, Julia Soemia und Julia Mammoea, dass es keine Rolle spielt. Wenn nämlich Bassianus zwei Töchter macht, Julia Domna und Julia Moesa, so setzt Julia Moesa ihrerseits zwei Töchter in die Welt: Julia Soemia und Julia Mammoea. Und Julia Moesa2, die mit Sextus Varius Marcellus verheiratet, doch zweifellos von Caracalla oder Geta (Söhnen der Julia Domna, ihrer Tante) oder von Gessius Marcianus, ihrem Schwager, dem Gatten der Julia Mammoea, oder vielleicht von Septimius Severus, ihrem Oheim mütterlicherseits, geschwängert worden ist, gebiert Varius Avitus Bassianus, später Elagabalus oder Sohn der Gipfel, Pseudantoninus, Sardanapal und schließlich Heliogabal zubenannt, ein Name, der offenbar die glückliche grammatische Verschmelzung der ältesten Bezeichnungen für die Sonne ist.

Da wäre also in Emesa am Orontes dieser vertrottelte Bonze mit seinen beiden Töchtern Julia Domna und Julia Moesa. – Es sind bereits zwei berüchtigte Weibsstücke, diese beiden Töchter, die von einer in ein männliches Geschlecht auslaufenden Krücke in die Welt gesetzt worden sind. Obwohl ganz und gar aus Sperma gemacht, und eben an der entferntesten Stelle, die sein Sperma an den Tagen erreicht, an denen der Vatermörder ejakuliert, – ich sage der Vatermörder, und man wird sogleich sehen, weshalb, – sind sie beide gut gebaut und massiv; massiv, das heißt eine Fülle an Blut, Haut, Knochen und jener gewissen aschfahlen Substanz, die durch die Hautfarbe hindurchschimmert. Die eine, Julia Domna, groß, bleiweiß gepudert, das saturnische Zeichen auf der Stirn, wie eine Statue der Ungerechtigkeit, der erdrückenden Ungerechtigkeit des Schicksals; – die andere klein, mager, feurig, explosiv, wild und gelb wie ein Leberleiden. Erstere, Julia Domna, ist ein Geschlecht, das Verstand gehabt haben soll, und Letztere ein Verstand, dem es nicht an Geschlecht fehlte.

Ums Jahr herum, da diese Geschichte anhebt, im neunhundertsechzigsten Jahr des Debakels von Latium und der eigenen Entwicklung dieses Volkes von Sklaven, Händlern und Piraten, das sich wie Filzläuse ins Land der Etrusker eingenistet und vom geistigen Standpunkt aus stets nur den andern das Blut ausgesaugt, stets nur an die Verteidigung seiner mit moralischen Geboten verbrämten Schätze und Truhen gedacht hat, um dieses Jahr 960 herum, das dem Jahr 179 der Herrschaft Jesu Christi entspricht, mochte Julia Domna, die Ahnin, achtzehn Jahre alt sein und ihre Schwester dreizehn; sie waren also in der Tat nahezu im heiratsfähigen Alter. Aber Domna glich einem Mondstein und Moesa zerriebenem Schwefel im Sonnenlicht.

Ich würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass die beiden noch Jungfrauen waren; was das betrifft, muss man ihre Männer fragen, nämlich Septimius Severus im Falle des Mondsteins und Julius Barbakus Mercurius im Falle des Schwefels.

In geografischer Hinsicht gab es noch immer jenen Saum des Barbarischen um das sogenannte römische Reich herum, in das man Griechenland, das historisch betrachtet die Vorstellung der Barbarei erfunden hat, einbeziehen muss. Und in dieser Hinsicht s