: Philipp Röding
: 20XX
: Luftschacht Verlag
: 9783903081741
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 178
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Claudia fährt mit Jan in ein Wellnesshotel irgendwo im Grenzgebiet zwischen Österreich und Liechtenstein. Man hat sie zu einer literaturwissenschaftlichen Tagung eingeladen, dabei ist ihr Roman schon vor zwei Jahren erschienen und erwartungsgemäß von der Kritik ignoriert worden. Nicht mal Jan hat ihn gelesen. Sie verbringen die Tage mit merkwürdigem Sex und noch merkwürdigeren Mahlzeiten. Julius sucht seine Schwester Nora über soziale Netzwerke, er hat sie vor Jahren aus den Augen verloren, jetzt will er ihr vom Tod der Mutter berichten, die im Gefängnis unter ungeklärten Umständen verstorben ist. Nora lebt wohlstandsgelangweilt mit Karim zusammen, sie hat viel Geld mit Weinboutiquen gemacht, er mit Computerspielen. Hast du Lust ein bisschen zu schießen? fragt sie Julius. Der hätte eigentlich lieber ferngesehen ... Rödings Figuren bewegen sich durch eine gefährlich surrende Gegenwart, sie sind gleichermaßen überspannt wie kontrolliert. Man sieht viel fern, das Internet ist überall. Während im Hintergrund schon wieder irgendein Nahost-Konflikt lautlos über den Bildschirm zieht, versucht man sich verzweifelt in unverbindlicher Kommunikation. Alles ist existenziell, nichts ist wichtig. 20XX ist gleichermaßen erschreckend komisch wie grandios traurig und die Held*innen sind umsponnen von einer virtuos entworfenen Verlorenheit.

PHILIPP RÖDING, * 1990 in Stuttgart, wuchs in Süddeutschland auf. Studium der Filmwissenschaften in Wien, Frankfurt am Main und an der University of Illinois. Lebt in Frankfurt am Main. Titel bei Luftschacht: 20XX (Roman, 2020) Die Möglichkeit eines Gesprächs (Roman, 2017) Die Stille am Ende des Flurs (Erzählungen, 2013)

Die Konferenz begann. Jan hatte nichts zu tun und ging vormittags, während Claudia an den Workshops teilnahm, in den umgebenden Wäldern spazieren. Einmal kam ihm auf einem dieser Spaziergänge ein Paar entgegen, etwas älter als er selbst. Der Mann trug eine Jogginghose von Nike und einen grauen Sweater, der mit dem Namen einer amerikanischen Eliteuniversität bedruckt war. Auf die Kleidung der Frau achtete er nicht besonders, denn ihr ganzes Gesicht und zum Teil auch ihre Haare, waren mit einem weißen, klebrigen Gel verschmiert. Ihre Wimpern und Lider waren dermaßen verklebt, dass sie nicht mehr in der Lage war, die Augen zu öffnen, weswegen der Mann sie führen musste wie eine Blinde, und als die beiden vorüberkamen grüßte der Mann und die Frau streckte die Arme aus und fragte, wer da sei, und der Mann sagte: ach, nur so eine Schwuchtel, die hier im Wald spazieren geht, und lächelte Jan an, und Jan sagte nichts, sondern suchte in der Innentasche seiner Jacke nach einer Marlboro, bis ihm einfiel, dass er schon seit zwei Jahren nicht mehr rauchte. Als er ins Hotelzimmer zurückkehrte, lag Claudia in einem Bademantel, auf dessen Brusttasche das Logo des Hotels samt fünf kleiner, roter Sterne eingestickt waren, auf dem Doppelbett und sah sich im Fernsehen die Nachrichten an. Offensichtlich hatte sie sich gerade geduscht, vielleicht war sie auch direkt nach der Nachmittagssitzung ein paar Bahnen geschwommen, jedenfalls lagen ihre Haare auf dem Kopfkissen ausgebreitet wie die Strahlen einer Glorie, was Claudia deshalb tat, weil die Haare sich dann beim Trocknen leicht lockten. Jan begrüßte sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und einen auf ihr rechtes Augenlid und einen auf den feuchten Haaransatz, der nach den Fruchtsäuren des Conditioners roch. Claudia versuchte an seinem Kopf vorbei auf den Fernseher zu schauen, offensichtlich interessierten sie die Nachrichten sehr. Irgendwo im nordöstlichen Atlantik war ein U-Boot verlorengegangen. Vor vier Tagen hatte dieUSS Virginia Woolf das letzte Mal einen Funkspruch abgesetzt. Der erste Offizier hatte vom Wetter gesprochen, von einer gigantischen, ambossförmigen Kumulonimbuswolke, die sich über dem Nordatlantik aufgetürmt hatte wie das Mutterschiff einer außerirdischen Invasionsarmee, und von der vorherrschenden Dünung und dem (geheimen) Kurs, auf dem sie sich befanden. Außer einem kleinen Defekt in einer der Batterien seien Schiff und Besatzung wohlauf und einsatzbereit. Man mache sich bereit zum Tauchen, um dem aufziehenden Sturm zu entkommen. Seitdem galt dieWoolf als verschollen. Jan ging dann selbst ins Bad, um sich zu duschen, und unter der Dusche erschien ihm wieder das Gesicht der Fra