Eser war wieder einmal allein zu Hause. Anne und Baba (Mama und Papa auf Türkisch) waren in der Arbeit, die Geschwister entweder noch in der Schule oder sonst irgendwo unterwegs. Es war ganz still. Nur gedämpft waren Geräusche von der Straße zu hören. Die Luft draußen war heiß und trocken. Es war Hochsommer, seit einigen Tagen war im Wetterbericht von einem Sahara-Hoch die Rede.
In der Küche, wo es wenigstens halbwegs kühl war, war Eser gerade mit einem Problem beschäftigt, das ihr seit einigen Tagen nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: Wie konnte es sein, dass Alice im Wunderland nicht in ihren eigenen Tränen ertrunken war? Eser hatte sich das Buch bei ihrer älteren Schwester ausgeborgt. Schon der Beginn der Geschichte mochte ihr aber nicht einleuchten: Nach dem Sturz in das Kaninchenloch war Alice mehrfach geschrumpft und gewachsen. Als Riesin hatte sie derart viel geweint, dass ihre Tränen das Zimmer überfluteten, und dann wäre sie als Zwergin fast darin ertrunken. Wie konnten sich Alice und die Maus an ein Ufer retten? Wie konnte es überhaupt ein Ufer geben? Wenn in einem Zimmer so viel Wasser ist, dass man darin ertrinken kann, dann müsste doch das gesamte Zimmer überschwemmt sein. Ergo, so dachte Eser, konnte es kein Ufer geben. Ergo, keine Rettung. Und wieder ergo, kein Überleben. (Ergo war eines von Esers Lieblingswörtern, es klang für sie viel geistreicher alsalso.)
Eser überkam eine Gänsehaut. Nicht wegen des gruseligen Gedankens an einen allzu frühen Tod von Alice im Wunderland, sondern weil es sie plötzlich fröstelte. Während sie über Seen aus Tränen in geschlossenen Räumen sinniert hatte, hatte es offensichtlich stark abgekühlt. Daran fand Eser an und für sich nichts Besonderes. Erst gestern hatte Carl M. Belcredi, der berühmteste Wetter-Ansager seiner Zeit und der Mann, den sie so sehr bewunderte, dass sie ihn irgendwann heiraten wollte, im Fernsehen noch davon gesprochen, dass die Natur den Berechnungen manchmal ein Schnippchen schlagen könne. Auch fand es Eser nicht übermäßig seltsam, dass noch immer die Sonne schien. Als es aber zu tröpfeln begann, war sie mit einem Satz auf den Beinen. Denn die Tropfen fielen nicht von draußen auf die Fensterscheibe, sondern mitten im Zimmer auf ihren Kopf, das Buch und den Küchentisch. Es regnete. In der Küche. Das war dann doch recht seltsam. Direkt über Esers Platz war ein runder Fleck an der Decke entstanden. Er sah aus wie eine aufgemalte Regenwolke. Grau und schwer.
„Unvorhergesehen können ein paar Wolken hereinrutschen, Abkühlung bringen und kleinrä