: Ilse Tielsch
: Die Früchte der Tränen
: Edition Atelier
: 9783990650363
: 1
: CHF 19.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 456
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Anni lebt mit ihrem Mann Bernhard inmitten der Aufbruchsstimmung der 1950er-Jahre. Sie studiert und arbeitet nebenbei in einer Buchhandlung, abends feiern sie mit ihren Freunden in der kleinen Wohnung ausgelassene Feste. Sie alle haben den Krieg und die Flucht aus Mähren durchgestanden, aber sie leben in der Gegenwart, fest dazu entschlossen, das Leben zu genießen. Ilse Tielsch zeigt den Neubeginn und den Wiederaufbau in den 1950er-Jahren inmitten der zeitgeschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen, mit denen die Menschen konfrontiert waren. Die aufkeimende Hoffnung in der Zeit des Wirtschaftswunders auf eine neue, bessere Welt wird 1956 jäh von der Niederschlagung des Ungarnaufstands durchbrochen. Und es kommen neue Verjagte, neue Flüchtlinge, wieder Menschen, die ihre Heimat verloren haben ...

Ilse Tielsch, 1929 in Auspitz/Hustopece in Mähren geboren, lebt als Schriftstellerin in Wien. Ihre Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Viele Preise und Auszeichnungen, u.a. Anton-Wildgans-Preis, Andreas-Gryphius-Preis, Südmährischer Kulturpreis. Zuletzt erhielt sie den Franz-Theodor-Csokor-Preis für ihr Lebenswerk.

2


Als man dem alten Schmied von Mühlfraun bei Znaim mitgeteilt hatte, daß er die Heimat verlassen müsse, sperrte er das Tor seiner Schmiede ab und machte sich auf den Weg nach Westen. Er war zu diesem Zeitpunkt achtundachtzig Jahre alt und noch rüstig, seine Beine waren gesund, und er wußte über die Himmelsrichtungen Bescheid. Den Norden dachte er sich zu kalt, daher kam er nicht in Betracht, der Süden schien ihm in seiner Vorstellung von den Landstrichen jenseits des Äquators zu heiß, im Osten lag Rußland, dorthin wollte er nicht. Es blieb nur die westliche Richtung, und diese schlug er ein.

Er wollte nach Amerika, sagt sein Enkel, er hatte in seiner Jugend mehrere Leute gekannt, die dorthin ausgewandert waren, und man hörte später, es ginge ihnen sehr gut. Vielleicht hatte er selbst zu jenem Zeitpunkt einmal an eine Auswanderung gedacht. Vielleicht hatte er auch die Hoffnung gehabt, jenseits des großen Ozeans seinen ältesten Sohn wiederzufinden, der schon zu Beginn des Jahrhunderts, als blutjunger Mensch, dorthin gezogen war, um sein Glück zu versuchen, daß dieser Sohn schon 1936 verstorben war, hatte er niemals wirklich geglaubt, oder er hatte es vergessen.

Wahrscheinlich hatte der alte Schmied von Mühlfraun keine konkreten Vorstellungen davon, wie weit es von seinem Dorf bis Amerika war, und wahrscheinlich unternahm er auch nicht einmal den Versuch, sich diese Entfernung auch nur annähernd vorzustellen. Man zwang ihn, von allem wegzugehen, was er geliebt und besessen hatte, nun brauchte er einen Ort, an dem es sich anzukommen lohnte, an dem er bleiben würde, bis man ihm erlaubte, in die Heimat zurückzukehren, Amerika schien ihm