»Das Streben nach Weisheit
beginnt mit dem
aufrichtigen Verlangen,
etwas zu lernen.«
Anonyme Sammlung
altterranischer Weisheiten,
Kapitel 1: Das Buch der Weisheit
1.
Live und in Farbe
»Anzu?«, hörte sie, und sie wusste nicht, ob es zu ihrem Traum gehörte oder zur Wirklichkeit. Falls es da überhaupt einen Unterschied gab in Tagen wie diesen.
Wenn man davon absah, dass esTage wie diese in ihrem Leben noch nie gegeben hatte und nie wieder geben würde.
Tage, in denen sie auf einem Planeten lebte, der in ein anderes Teiluniversum wechselte. Ein unerhörter, unfassbarer Vorgang, zu dem sie ihren Teil beigetragen hatte.
Und erneut: »Anzu!«, diesmal drängender. »Willst du es sehen?«
Also öffnete sie die Augen und seufzte, gerade so laut, dass es diese elende Kabinenpositronik wahrnehmen, aber vielleicht nicht als allzu entschieden interpretieren würde. »Was?«
»Den Nebel.«
»Welchen Nebel?« Die Worte fielen ihr schwer, so sehr war sie noch im Schlaf gefangen.
»Ich dachte«, ertönte die mechanische Stimme, »die Veränderung könnte dich interessieren.«
»Du dachtest?«
»Selbstverständlich nicht im menschlichen Sinn«, sagte der Kabinenrechner. »Wenn du Wert auf eine präzisere Formulierung legst, erkläre ich es für dich erneut und bezeichne es als eine Schlussfolgerung anhand deiner bisherigen Verhaltensweisen, die ich aufgrund meiner Programmierung so interpretiere, dass ...«
»Schon gut!«, unterbrach Anzu Gotjian, schlug die Decke zurück, setzte sich kurz auf die Bettkante und stand auf. Es war kühl in ihrer Kabine an Bord der TESS QUMISHA, und das Licht war so gedämpft, dass sie alles nur umrisshaft erkannte. »Ich verstehe, was du meinst.«
»Es war ein Versuch, die Sprachausgabe deiner Ausdrucksweise anzupassen, die ...«
»Ja, ich verstehe«, wiederholte Anzu. »Keine weitere Erklärung nötig. Also – von welcher Veränderung sprichst du?« Und hatte der Rechner tatsächlich von einem Nebel gesprochen? Oder war das noch Teil ihres Traums gewesen?
»Der Re-Transfer von Terra und Luna ins Heimatuniversum hat ein bislang unbekanntes Phänomen ausgelöst. Auch die alten Aufzeichnungen der ersten Versetzung berichten nicht davon.«
»Und das bedeutet ... was?« Anzu winkte ab. »Nein, sag es mir nicht! Ich will es sehen.«
»Ich kann ein Holo der Außenaufnahme projizieren, aber das würde es nur sehr unvollständig wiedergeben«, erklärte die Kabinenpositronik. »So jedenfalls beschreibt es Perry Rhodan in seiner Empfehlung an die Mannschaft, die lautet, nach Möglichkeit die TESS QUMISHA zu verlassen und es sich, ich zitiere seine Worte,live und in Farbe anzusehen.«
Und wer bin ich, dass ich Perry Rhodan widerspreche?, dachte sie. »Mehr Licht!«
Anzu sah sich in der Kabine um. Noch hatte sie sich nicht eingewöhnt; alles war neu und auf ganz eigene Weise wunderbar.
Sie verdrängte die bange Frage, die seit Tagen immer wieder in ihrem Verstand anklopfte und hastig winkend Aufmerksamkeit heischte: Würde sie sich wohl jemals eingewöhnen? Vielleicht starb sie demnächst sowieso, weil entweder die TESS oder wahlweise gleich die gesamte Erde unterging. Kein allzu unwahrscheinliches Szenario.
»Weg damit!«, befahl sie diesem düsteren Gedanken ebenso leise wie bestimmt.
»Bitte?«, f