ANDERES LEBEN
Es ist Montag, der 8. Januar 1962. Vor diesem Tag fürchte ich mich schon seit langem. Es ist noch früh am Morgen. Becky wird gleich zum Bahnhof gehen. Sie will nicht, dass wir sie hinbringen.
«Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Abschied nehme», sagt sie. «Ich glaube, das kann ich nicht.»
«Vielleicht lernst du es dann nie mehr», sagt meine Mutter.
«Ist das so schlimm? Ist es schlimm, wenn man nicht Abschied nehmen kann?»
In Rotterdam wird sie das Schiff nach New York besteigen, um zu ihrem Freund zu ziehen, der dort lebt. In einem Viertel mit Kneipen und Cafés, in denen allabendlich Musiker auftreten. Vor ein paar Tagen hat sie einen Stadtplan auf dem Tisch ausgebreitet. «Hier!», zeigte sie. «Hier werde ich wohnen.» Auch sie hat Lieder geschrieben. «Vielleicht gefallen sie den Leuten dort.»
Ich fragte, warum sie nicht erst gucken will, ob sie den Leuten hier gefallen.
«Dort ist es anders, ein anderes Leben», sagte Becky.
Ich sah ihr an, dass sie nicht erklären konnte oder wollte, inwiefern das Leben dort anders war. Trotzdem fragte ich mich, wie oft im Leben ein anderes Leben anfängt. Wann fängt mein anderes Leben an? Vielleicht, wenn Becky fort ist.
Becky sitzt mir gegenüber am Tisch. Mein Vater ist schon früh gegangen, um einem Freund beim Umzug zu helfen. Meine Mutter ist traurig.
Ich kann Becky kaum ansehen. Sie ist in ihrer Welt, und ich bin in meiner, dazwischen hat sich noch eine Welt geschoben, in der ich mich verlaufe und suchend umschaue, ohne zu wissen, wonach ich Ausschau halten soll.
«Ich komme zurück», höre ich sie sagen und möchte