Die Papierwelt
Der Wortzähler konnte sich seiner Ankunft nicht mehr entsinnen. Die Zeit hatte einen Stillstand erlitten. Er war angereist – so schien es ihm – in die Welt der Wörter. Den Blick nach unten gerichtet, die Schritte von den Gedanken geleitet, so betrat er die Welt jenseits der Sinne.
Sie hieß ihm willkommen, die Welt der papiernen Wörter. Überall wo der Wortzähler sie mit dem verzweifelt- liebenden Blick der Schrift durchforstete, fand er seine Leidenschaft wieder. Die Wörter. Eine lieblichpapiernzartduftende Welt der Sprache. Ganze Landschaften, Wiesen, Bäume, umhüllt in die streichelsanftgeschmeidigen Blätter der Schrift. Ein beschrifteter Himmel. Sterne, die nach Buchstaben glänzten. Flüsse aus Tinte. Beschriftete Baumäste, die sich lesbar darboten. Die ganze Welt war eine Geschichte aus Papier. Eine Geschichte, die überall in der Natur stattfand. Er konnte diese Schönheit bereits von der Ferne durchschauen, ohne wirklich in sie eingedrungen zu sein.
Nach einer Weile des regungslosen Anblicks fasste der Wortzähler seinen geistigen Mut zusammen. Ihm blieben keine Verluste mehr übrig, die physische Wirklichkeit war eine ferne Vergangenheit, und obwohl der Abschied frisch war, schien es für den Wortzähler, nie einen Abschied gegeben zu haben. Die Papierwelt bahnte ihn in ihren Duft – je mehr er in sie eintauchte – und alle Vergänglichkeit, alles Leid wurde vergessen. Die physische Lebensgeschichte wurde wegradiert, mit weißer Blendungsfarbe überstrichen, allein der Lebenssinn blieb ihm ein unsterbliches Denkmal seines Selbst. Der Sinn offenbarte sich in dieser Welt der Wörter, die ihre beschriftete Pforte für den Seelenverwandten öffnete, eine Welt, die sich aus Schriftstücken nährte. Sein Lebenssinn. Viele Buchstaben, Wörter, Sätze, Geschichten erwarteten ihn dort – sie warteten darauf von ihm gezählt zu werden, hafteten überall in der Natur herum, einem vegetierenden Eigenleben gleich. Sein Blick sprach ihm die Freude vorzeitig zu, denn die geistigen Augen erreichten die Landschaften aus Sprache, von fernher. Der Wortzähler beschritt den Boden seines Geistes, langsam, bedächtigen Schrittes. Er ging durch die geöffnete Pforte, trat in die Leidenschaft ein.
Angekommen in der Papierwelt, folgte der Wortzähler fortan seiner inneren Stimme; ihm wurden gedankliche Laute vernehmbar, die forderten: sein Blick möge sich auf den frisch gewonnenen Leib richten. Und die Augen erfassten einen Leib aus weißem Papier. Ein Leib, der raschelte und seinen Geist umhüllte, ein Leib, der mit einer Geschichte beschriftet ward, seine eigene Lebensgeschichte. Die Gedanken wurden schmerzhaft bei dieser Erkenntnis. Hatte er noch ein Gesicht, Beine, Arme, eine Identität? Nein, es sei lediglich die Form hiervon übrig, das Urgesicht, die Urform eines menschlichen Körperbaus; der innere Zusammenhalt dieses menschenähnlichen Formgebildes seien jedoch nicht die Organe, sondern papierbestückte Geschichten. Dem Wortzähler gelang es nicht, die eigenen Gedanken zu verstehen, sie zeugten von Verwirrung, ja es war ihm, als wenn seine Gedanken eine Fremdherrschaft im eigenen Selbst übernahmen. Er hörte auf, sich mit der Frage nach der gedanklichen Fremdherrschaft zu belästigen, zu verlockend standen ihm die zahlreichen Wörter, Geschichten vor dem inneren Auge; ihm wurde nur lediglich gewahr, dass die Seele sich seinen Gedanken entfremdete, eigene Wege ging, auf eine hinterlistige Art. Doch wenn nicht die Gedanken das eigene Selbst waren – wer war er dann?
Ungeachtet dieser belastenden Fragestellungen entschied sich der Wortzähler, seine Lieblingsbeschäftigungsinnenwelt weiter zu verfolgen, und zu entdecken. Der Blick erfreute sich an den vielen Schriftzügen der Wolken, des Himmels, der Natur. Da trat ihm ein Wesen entgegen, es besaß die menschlich-anatomische Urform, aber eine Haut aus weißem Papier, durchzogen von unzähligen reihenförmig gegliederten Schriftzügen, sodass der wortzählende Geist des Neuankömmlings augenblicklich verstummte. Das Wesen stellte sich ihm als der gnädige Gelehrte vor. Der Wortzähler erwiderte nicht den Gruß, gedankenverloren schien er einem frischen, noch nie dagewesenen Kummer verfallen zu sein.
„Warum Sie nicht antworten?“, wollte der gnädige Gelehrte wissen.
Immer noch keine Antwort.
„Sie scheinen wohl den Blick steinfest auf meine schöne Schrifthaut gerichtet zu haben, Herr Wortzähler? Nun kennen Sie denn auch den Sinn hinter all´ diesen Schriftzügen, die meine Haut bedecken?“
Der Wortzähler kämpfte mit dem Missgeschick seiner Gedanken. „Nein, verehrter Gelehrte der Gnade, ich kenne nur meine Unfähigkeit, Ihre Schriftzüge zusammenzuzä