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2. LOSLASSER SIND KEINE VERLIERER: WARUM LOSLASSEN SO ENTSCHEIDEND IST
»Ich hab gleich wieder Kraft! Ich kann dann weiterspielen! Muss noch nicht schlafen!« So der Ausruf des Dreijährigen einer befreundeten Familie. Der Vater berichtet von den abendlichen Schlafengehen-Szenen, die sich manchmal über Stunden hinziehen. Der Kleine will einfach noch weitermachen mit dem Tag. Und diskutiert endlos.
Tja, wir kennen den Vater gut, er ist beredsam und eloquent … Da hat er seinem Sohn wohl etwas mitgegeben!
Wenig später ertappe ich (Uli) mich spätabends. Es war ein normaler Arbeitstag, die Stunden im Beruf waren vollgestopft mit Aufgaben, Telefonaten, Terminen. Abends habe ich noch ein paar Dinge für den Haushalt erledigt, Kerstin und ich haben ein wenig Zeit miteinander verbracht, und als es auf 22 Uhr zugeht, bin ich total unzufrieden.
Gern hätte ich noch mehr Zeit für mich selbst gehabt, noch ein wenig gelesen, Musik gehört, ein wenig meinen Gedanken nachgehangen – doch es wäre unvernünftig, weiter aufzubleiben und am Nachtschlaf zu sparen. Verabschieden will ich den Tag aber auch noch nicht. Ich mag nicht loslassen, ich will noch etwas vom Abend haben.
Und plötzlich merke ich: »Ich will noch nicht ins Bett!« ist nicht nur der Ausruf von Dreijährigen, sondern auch eine Regung von Erwachsenen. Das ganze Leben ist durchzogen von Momenten, in denen wir loslassen müssen.
Wir kennen ein Ehepaar, für die der Sommerurlaub einen sehr hohen Stellenwert hat. Und geht er dem Ende entgegen, hat jeder von ihnen seinen eigenen Weg, Abschied zu nehmen.Er sagt meist am vorletzten oder letzten Tag: »So, das war ein schöner Urlaub.«
Sie entgegnet dann sofort: »War?Ist doch noch schön. Wir sind doch noch nicht losgefahren.« Sie will alles bis zur letzten Sekunde auskosten und keinen Moment eher loslassen.
Er dagegen hat den Zeitpunkt selbst gewählt, an dem er sich von der schönen Zeit verabschiedet. Er ist bereit loszulassen, hat das Ende ein Stück selbst bestimmt. Sie hält fest, bis es nicht länger geht, und lässt sich den Schlussstrich vom Kalender ziehen.
Zwei Arten, Abschied zu nehmen: eine versöhnliche und eine gezwungene.
Loslassen als Alltagsübung. Mal leichter, mal schwerer. Für uns Wendels ist der Sommer die Lieblingsjahreszeit, und wird es Anfang September, versuchen wir scherzhaft, das Wort »Herbst« bloß noch nicht in den Mund zu nehmen. Wir reden vom »einsetzenden Spätsommer« oder vom »fortgeschrittenen mittleren Spätsommer« und wissen dabei natürlich, dass wir uns etwas vormachen. Der Herbst wird kommen.
Egal, ob Alltag oder Urlaub – sowohl für Kinder als auch für Erwachsene ist es wichtig, sich im Loslassen zu trainieren. Mal fällt es uns allen leichter, meistens aber eher schwer, wenn wir ehrlich sind. Vielleicht wirken gerade deshalb die radikalen Jesus-Gedanken, die gleich vorgestellt werden, kräftig herausfordernd?
Ein Grundmuster des Christseins
Niemand kommt darum herum, immer wieder etwas loszulassen. Meist geht die Welt dabei nicht unter – der Herbst ist keine Katastrophe, und abends das spannende Kapitel ungelesen zu lassen und stattdessen schlafen zu gehen, auch nicht.
Andere Herausforderungen gehen mehr ans Eingemachte: Wer merkt, dass er keine langen Strecken mehr mit dem Auto fahren kann, oder wer im Alter spürbar vergesslicher wird, der muss das erst mal unter die Füße kriegen.
Doch es gibt eine noch tiefere Dimension des Loslassens:
Loslassen ist das Grundmuster des Christseins. Ja, es ist geradezu die Definition für ei